Paralympics: Politischer Maulkorb für Aktive
17. August 2021Tamiru Demisse tat es nicht nur einmal, sondern zweimal. Nachdem der sehbehinderte 1500-Meter-Läufer aus Äthiopien bei den Paralympischen Spielen 2016 in Rio de Janeiro die Ziellinie überquert hatte, kreuzte er - wie zuletzt US-Kugelstoßerin Raven Saunders bei den Olympischen Spielen in Tokio - die Arme zum Zeichen des politischen Protests. Bei der Siegerehrung, mit der Silbermedaille um den Hals, wiederholte der damals 22-Jährige die Geste.
Demisse, der bei der Eröffnungsfeier der Spiele die Fahne seines Heimatlands getragen hatte, wollte damit gegen Menschenrechtsverletzungen durch die Regierung Äthiopiens protestieren. "Wir haben ihm sehr, sehr deutlich klargemacht, dass politische Statements bei den Paralympics nicht erlaubt sind", sagte der damalige Präsident des Internationalen Paralympischen Komitees, Philip Craven.
Politische Aktionen an Wettkampforten untersagt
Auch wenn der IPC-Chef seit 2018 Andrew Parsons heißt, hat sich an dieser Grundlinie wenig geändert. Analog zur umstrittenen Regel 50.2 der Olympischen Charta gibt es in den Regeln für die Paralympischen Spiele den Artikel 2.2. "Jede Art von Demonstration, Protest oder politischer Äußerung" sei untersagt, heißt es darin, es sei denn, das IPC lasse Ausnahmen zu.
Bei den Paralympics in Tokio, die wie die Olympischen Spiele wegen Corona vor leeren Rängen ausgetragen werden, dürfen sich Athletinnen und Athleten nach Angaben des IPC nur in den Interviewzonen und bei Medienterminen politisch äußern - oder über die sozialen Netzwerke. Bei offiziellen Zeremonien wie der Medaillenübergabe bleiben politische Aktionen tabu, ebenso an den Wettkampfstätten.
Bei den Olympischen Spielen waren an den Wettkampforten immerhin politische Äußerungen und Gesten erlaubt, sofern sie "sich nicht direkt oder indirekt gegen Menschen, Länder, Organisationen und/oder deren Würde richten" und "nicht störend sind", z.B. bei der Vorbereitung anderer Athleten oder Mannschaften auf den Wettkampf. Bei den Paralympics gilt das Verbot dagegen sogar für die Umkleidekabinen und die Aufwärmzonen.
Umfrage unter Aktiven mit Handicap
Das IPC weist darauf hin, dass diesen Vorschriften für Tokio ein neunmonatiger Diskussionsprozess mit den Athletinnen und Athleten vorausgegangen sei. An einer Online-Umfrage des IPC hatten sich fast 500 behinderte Sportlerinnen und Sportler beteiligt, außerdem gab es Arbeitsgruppen, die prinzipiell allen offen standen. Dies sei immerhin "ein Schritt in die richtige Richtung", sagt Mareike Miller der DW. Die Kapitänin des deutschen Rollstuhlbasketball-Teams ist Aktivensprecherin des Deutschen Behindertensportbunds (DBS). "Es gibt einfach ein Interesse der Athleten, sich auch auf dem Spielfeld äußern zu dürfen."
Dass die Meinungsfreiheit in Tokio etwa bei der Medaillenübergabe weiter eingeschränkt bleibt, hält die 31-Jährige in Anbetracht des relativ kurzen Diskussionsprozesses für "in Ordnung". Es bleibe aber noch viel Luft nach oben: "Es wäre zum Beispiel gut, wenn man - wie bei den Olympischen Spielen im Falle der Hockey-Kapitänin Nike Lorenz mit ihrer Kapitänsbinde in Regenbogenfarben - auf Antrag bestimmte Aktionen machen könnte."
Welche Strafen für welches Vergehen?
Es sei eine Sache, wenn das IPC die Aktiven nach ihrer Meinung frage, sagt Miller. "Inwiefern unsere Wünsche dann umgesetzt werden, steht auf einem anderen Blatt. So gab es auch den Wunsch der Sportlerinnen und Sportler nach Transparenz, welche Strafen auf welche nicht erlaubten Proteste und Meinungsäußerungen stehen. Dazu wurde noch nichts veröffentlicht."
Das IPC nennt als mögliche Sanktionen "eine Verwarnung, eine Geldstrafe, den Ausschluss von den Zeremonien während der Spiele, die Aberkennung gewonnener Medaillen, den sofortigen Ausschluss von den Spielen sowie eine Sperre für künftige Paralympische Spiele und andere Para-Sport-Aktivitäten". Die Strafe würde "die Schwere des fraglichen Fehlverhaltens widerspiegeln", lässt das IPC wissen, ohne den Aktiven zu erklären, welche Vergehen als weniger oder als besonders schwer angesehen werden.
DBS rät Aktiven, sich an die Regeln zu halten
Den 134 Mitgliedern des "Teams Deutschland Paralympics" habe man "selbstverständlich geraten, sich an die Regularien zu halten", teilt der Deutsche Behindertensportverband auf Anfrage der DW mit. "Alles andere wäre unverantwortlich und könnte den Ausschluss von den Spielen nach sich ziehen."
Tamiru Demisse kam 2016 in Rio mit einer Verwarnung davon, seine Medaille durfte er behalten. Zum 400-Meter-Lauf, den er eigentlich auch noch bestreiten sollte, ließ ihn das äthiopische Team nicht mehr antreten. Nach den Spielen blieb Demisse in Brasilien. Sein großer Traum, in Tokio für seine neue Wahlheimat antreten zu dürfen, erfüllte sich nicht. Die Einbürgerung ließ zu lange auf sich warten.