Filmfestival Thessaloniki wird 60
1. November 2019September 1971. Im großen Saal der Gesellschaft für Mazedonische Studien nimmt vor der Kinoleinwand Thessalonikis Elite Platz. Das 12. Griechische Kinofestival ist in vollem Gange. Seit 1967 beherrscht die Militärjunta unter Führung von Georgios Papadopoulos das Land. Für die griechischen Filmemacher bedeutet dies Zensur. Die guten Plätze im Kinosaal bleiben in diesen Jahren den Unterstützern des Regimes vorbehalten. Die billigen Tickets in den oberen Rängen werden vor allem von kinobegeisterten Studenten ergattert. Und die sind alles andere als regimetreu.
Während die Zuschauer unten ruhig die Filmvorführungen verfolgen, dröhnen Stimmen von den oberen Rängen. Die vom Regime zurecht geschnittenen Filme sorgen für Unmut. Immer lauter hallten die Rufe der Studenten durch den Kinosaal. Die Proteste im Jahr 1971 gehen unter dem Begriff "2. Balkon" in die griechische Geschichte ein. Sie stehen bis heute Symbol für den Widerstand junger Griechen gegen Unterdrückung und für Meinungsfreiheit.
Publikums-Festival
In diesem Jahr feiert das Festival seinen 60. Geburtstag. Es hat nicht nur die Militärjunta überlebt, sondern auch radikale Veränderungsprozesse - und nicht zuletzt die harten Jahre der Wirtschaftskrise. Seit 1992 lautet der offizielle Name "Internationales Filmfestival Thessaloniki". Mitten im Zentrum der Stadt werden jährlich die roten Teppiche ausgerollt, auch wenn sie mit denen in Cannes, Venedig und Berlin wenig gemein haben. Hier stehen nicht Filmstars und Geldprominenz, sondern vor allem die Zuschauer selbst im Mittelpunkt.
Das Festival verzichtet bewusst auf Prunk. Allein die Leinwand zählt und das, was auf sie projiziert wird: Werke von neuen Talenten vor allem aus dem Independent-Kino; Filme aus aller Welt, mithilfe derer das Publikum für einen Moment über den griechischen Tellerrand hinausschauen kann - und das zu Preisen, die selbst in Krisenzeiten erschwinglich waren.
Seit 2016 verantwortet die Französin Elise Jalladeau als Generaldirektorin diese griechische Kulturinstitution. Ihre Aufgabe: Die Position des Festivals international auszubauen und gleichzeitig den regionalen Charakter zu stärken. Sie weiß: Die Menschen in Thessaloniki lieben ihr Festival. Und schließt daraus: Dann soll das Festival eben auch die Menschen lieben: "Das Festival ist ja nicht nur eine Veranstaltung. Wir haben ein Museum, mehrere Kinos, die das ganze Jahr über Programm anbieten, außerdem das Dokumentarfilmfestival im März und es gibt Bildungsprogramme für Kinder. Wir wollen in Zukunft all diese Elemente noch stärker in die Stadt integrieren und noch mehr auf die Menschen zugehen", erklärt Jalladeau im Gespräch mit DW.
Austausch in einer Krisenregion
Obwohl das Festival im Vergleich zu Cannes, Venedig oder Berlin in Westeuropa und den USA nur wenig Beachtung findet, ist es in Südosteuropa eines der wichtigsten Events der Branche. Thessaloniki ist die zweitgrößte Stadt Griechenlands und liegt nahe der Grenzen zu Albanien, Bulgarien, Nordmazedonien und der Türkei. Die Region ist vor allem für ihre Krisen bekannt. Die komplizierten nachbarschaftlichen Verhältnisse sind nicht zuletzt das Erbe blutiger Kriege um Land und kulturelle Vorherrschaft. Die Geschichte steht oft zwischen den Menschen.
Das Thessaloniki-Festival setzt dagegen ein Zeichen. Seit 1994 wirft man mit der Rubrik "Balkan Survey" einen differenzierten Blick auf Südosteuropa. Angefangen habe dies in einer Zeit, als in den griechischen Medien fast ausschließlich negativ über den Balkan berichtet wurde, erklärt Dimitris Kerkinos, Leiter der Balkan-Rubrik: "Wir haben uns den kreativen Kräften der Region zugewandt. Wir sind das einzige Festival weltweit, das eine Rubrik dieser Art hat." Die vielen Konflikte, die die Menschen der Region voneinander trennen, spielten im Kinosaal keine Rolle. Im Gegenteil. Man unterstütze die Rubrik: "Das griechische Publikum erkennt sich in den Filmen wider. Sie können sich mit den Problemen ihrer Nachbarn identifizieren."
Der neue neue griechische Film
Thessaloniki ist und bleibt das wichtigste Forum für griechische Filmemacher. Faktisch jede griechische Kinogröße ist durch dieses Festival gegangen. Selbst zu Juntazeiten war Thessaloniki Dreh- und Angelpunkt des griechischen Films, erinnert sich Festivalpräsident Giorgos Arvanitis. "Die Junta hatte das Festival zu einer Veranstaltung für nationalistische Filme degradiert. Aber wir haben damals heimlich gefilmt", erinnert sich Arvanitis, in Anspielung auf seine Zusammenarbeit mit der griechischen Kinolegende Theo Angelopoulos.
Die in Griechenland verbotenen Filme hätten sie nach Berlin und Cannes geschmuggelt, vorbei an der offiziellen Zensur. Der Kontakt mit der internationalen Filmwelt sei nie abgebrochen. Nach dem Fall der Militräjunta entwickelte sich das "Neue Griechische Kino", für das Thessaloniki zum Tor ins Ausland wurde. Dort prägten Regisseure wie Theo Angelopoulos und Costa-Gavras den europäischen Film entscheidend mit.
Seitdem hat sich Thessaloniki zum Sprungbrett für junge griechische Filmemacher entwickelt. Die Aufgabe des Festivals sei es immer noch, neuen Talenten ein Fenster für ihre Karriere zu öffnen, erklärt Jalladeau. Man kooperiere eng mit Berlin und Cannes, wo griechische Filmemacher immer mehr Beachtung finden: "Nach dem ‚Neuen Griechischen Kino‘ hat sich nun das ‚Neue neue griechische Kino‘ entwickelt. Die griechischen Filmemacher von heute sind sehr erzählerisch und emotional. Dabei sind sie hochkreativ und professionell", bestätigt Elise Jalladeau.
In der Tat werden griechische Filmemacher auch im Ausland immer erfolgreicher. Giorgos Lanthimos wurde für seine Filme "The Lobster" und "The Favourite" für insgesamt vier Oscars nominiert. Alexandros Avranas erhielt in Venedig den Silbernen Löwen für "Miss Violence". Athina Rachel Tsangari ist eine anerkannte Größe des Independent Films. Die Liste griechischer Talente in der Filmwelt ist lang. Die meisten von ihnen eint eines: Angefangen hat ihre internationale Karriere auf dem Filmfestival in Thessaloniki.
Das 60. Filmfestival läuft vom 31.10.-10.11.2019.