EU-Gipfel zu Corona-Hilfen zieht sich hin
20. Juli 2020Nach kurzem Ausruhen im Hotel traf Bundeskanzlerin Angela Merkel im Tagungsgebäude "Europa" in Brüssel ein. Die ganze Nacht war verhandelt worden. Am Mittag gingen vorbereitende Gespräche für die große Gipfelrunde am späten Nachmittag los. Merkel klang bei ihrem kurzen Statement etwas zuversichtlicher als an den ersten drei Gipfeltagen. "Es gibt Hoffnung, dass es heute vielleicht zu einer Einigung kommt oder zumindest eine Einigung möglich ist. Es war klar, dass es unglaublich harte Verhandlungen gibt und die werden sich heute auch noch fortsetzen."
Die 27 Staats- und Regierungschefs befinden sich auf einem rekordverdächtigen Pfad. Sie tagen nun schon den vierten Tag in Folge in Brüssel, um einen Aufbaufonds nach Corona und den mehrjährigen Haushalt der EU zu verabschieden. Der einzige Gipfel, der noch länger dauerte war der Gipfel in Nizza im Dezember 2000. Der dauerte vier Tage und eine letzte lange Verhandlungsnacht. Auch damals ging es um den Haushalt und EU-Reformen. Allerdings nur mit 15 Mitgliedsstaaten. Die Herausforderung heute sei ungleich größer, meinen EU-Diplomaten, die mittlerweile wie ihre Chefs an Schlafmangel leiden. "Aber außergewöhnliche Situationen erfordern eben auch außergewöhnliche Anstrengungen", sagte Bundeskanzlerin Angela Merkel, die auch im zweiten Halbjahr auch EU-Ratsvorsitzende ist. "Ich hoffe, dass die verbleibende Wegstrecke, die nicht einfach werden wird auch noch von uns zurückgelegt werden kann."
Die größte Wirtschaftskrise der EU muss abgefedert werden. Mit 1,8 Billionen Euro insgesamt liegt das größte jemals verhandelte Finanzpaket auf dem Tisch. "Da nimmt man sich lieber mehr Zeit als weniger", so ein EU-Diplomat. Auch die Präsidentin der Europäischen Zentralbank, Christine Lagarde, hatte den Gipfel-Kämpfern in einem Interview geraten, sich lieber mehr Zeit zu nehmen, es richtig und gründlich zu machen, statt nur schnell. Lagarde ging wie viele andere Beobachter davon aus, dass die EU sogar noch einen zweiten Sondergipfel brauchen würde, um den beispiellosen Aufbaufonds auf die Beine zu stellen.
Schlafen und weitermachen
Am frühen Montagmorgen hatte der ständige Vorsitzende der Gipfelrunde, Charles Michel, in einer Plenarsitzung mit allen 27 Staats- und Regierungschefs beschlossen, dass die Verhandlungen so weit gediehen seien, dass ein Abschluss an diesem vierten Gipfeltag möglich sei. Also hieß die Vereinbarung, alle Delegationen gehen schlafen und treffen sich am Nachmittag zum nächsten Anlauf. Zuvor hatten die verschiedenen Lager im Haushaltsstreit die ganze Nacht über beraten.
Über die Einzelheiten der Verhandlungen dringt wenig nach außen. Nur einige wenige EU-Diplomaten geben einige vertrauliche Informationen weiter. Die Staats- und Regierungschefs selbst schwiegen beim Verlassen des Gipfel-Gebäudes im Brüsseler Europa-Viertel weitgehend. Es soll teilweise recht laut und hitzig in den Gesprächskreisen zugegangen sein. Der französische Präsident Emmanuel Macron drohte damit, den Gipfel zu verlassen. Er soll mit der Faust auf den Tisch geschlagen haben, um seinem Unmut über die sparsamen "Krämerseelen aus dem Norden" Ausdruck zu verleihen. "Undiplomatische Ausdrücke, die man nicht zitieren kann, wurden verwendet", meinte ein Diplomat aus dem Umfeld der Verhandlungen.
Bei der Fortsetzung des Gipfels am vierten Tag zeigte sich Macron nach etwas Schlaf konzilianter. "Es gibt Hoffnung auf einen Kompromiss, aber ich bleibe sehr vorsichtig", sagte Macron. Er mahnte, die Ambitionen für die großen Ziele Europas nicht aus den Augen zu verlieren, und zwar die Klimapolitik, die Digitalisierung und die Souveränität Europas.
Aufbaufonds wird kleiner
Der Konflikt zwischen den "sparsamen Fünf" (Österreich, Niederlande, Dänemark, Schweden, Finnland) und den Empfängerländern bestimmt nach wie vor das Bild. Aus den sparsamen Vier wurden Fünf, weil Finnland jetzt offiziell dieser Interessengruppe beigetreten ist. "Das stärkt natürlich unsere Verhandlungsposition", freute sich der österreichische Bundeskanzler Sebastian Kurz, der immer wieder betont, er müsse vor allem die Interessen der österreichischen Steuerzahler wahren. Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte, dessen Land vom geplanten Corona-Aufbaufonds stark profitieren würde, warf dem niederländischen Ministerpräsidenten Mark Rutte vor, er spiele hier den Helden für Wählerstimmen zuhause. Langfristig aber werde Europa an dem Widerstand der Niederländer gegen das Volumen und die Konstruktion des Aufbaufonds schwer leiden.
EU-Kommission und der Ratsvorsitzende Charles Michel hatten vorgeschlagen einen 750 Milliarden Euro schweren Aufbaufonds erstmals über einen gemeinsamen Kredit der EU zu finanzieren. 500 Milliarden davon sollten als Zuschüsse an die Mitgliedsstaaten verteilt werden, um deren Konjunktur nach Corona anzukurbeln. 250 Milliarden sollten als Kredite an die bedürftigen Staaten ausgegeben werden. Nach drei Tagen Verhandlungen liegt auf Druck der fünf kleineren Nettozahler, den sogenannten Sparsamen, nun ein dritter Kompromissvorschlag vor. Danach soll das Volumen des Aufbaufonds unverändert bei 750 Milliarden bleihen. Reine Zuschüsse sollen darin auf 390 Milliarden Euro verringert werden und die rückzahlbaren Kredite auf 360 Milliarden steigen. Spanien und Italien hatten lange gegen diese Verkleinerung der Zuschüsse opponiert. Frankreich und Deutschland, die beiden größten Nettozahler wissen sie dabei an ihrer Seite. Schließlich hatte Bundeskanzlerin Angela Merkel dafür geworben, dass der Fonds "wuchtig" sein müsse, also groß genug um in den nächsten drei Jahren wirklich einen Wiederaufbau und Umbau der europäischen Wirtschaft nach der Pandemie anzustoßen.
Ungelöste Fragen
Umstritten war zuletzt auch noch, nach welchen Kriterien die "Bedürftigkeit" der von Corona getroffenen Staaten ermittelt werden soll. Die Niederlande und andere Nettozahler verlangen außerdem strikte Kontrollen bei den Ausgaben. Mit EU-Zuschüssen finanzierte Projekte in Italien etwa sollen gestoppt werden können, wenn nur ein einziges Mitgliedsland Nein sagt. Dieses Vetorecht lehnen Italien und andere Empfängerländer strikt ab. Auch Ungarns Premierminister Viktor Orban schlug sich auf die Seite Italiens und warf dem niederländischen Premier vor, er habe etwas gegen das ungarische Volk. Zum Vetorecht arbeiteten die EU-Juristen an einer komplexen Formel, die beide Seiten akzeptieren können. Herausgekommen ist im dritten Vorschlag jetzt das Recht für einen Mitgliedsstaat, die Auszahlungen an einen anderen Mitgliedsstaaten durch einen EU-Gipfel überprüfen zu lassen.
Heiß umkämpft ist auch noch das Kriterium "Rechtsstaatlichkeit" für die künftige Auszahlung von Zuschüssen. Die meisten Mitgliedsstaaten treten dafür ein, um Ungarn oder Polen zur Einhaltung rechtsstaatlicher Regeln zu veranlassen. Ungarn und einige andere osteuropäische Staaten lehnten das zuletzt vehement ab. Auch hier muss Ratspräsident Michel noch eine Kompromiss-Formel finden. Er schlägt Mehrheitsentscheidungen Überprüfung der Rechtsstaatlichkeit vor, die der ungarische Premier Viktor Orban bislang strikt ablehnte.
Werden die Fronten am Abend aufgeweicht? Oder in der Nach? Oder morgen?