EU-Gipfel: Merkel sucht die Entscheidung
19. Juli 2020Bei ihrem Eintreffen im Gipfelgebäude in Brüssel verpasste die derzeitige Ratspräsidentin der EU, Bundeskanzlerin Angela Merkel, allen Hoffnungen einen Dämpfer, der dritte Tag des EU-Sondergipfels könnte den Durchbruch bringen. "Ob es zu einer Lösung kommt, kann ich nach wie vor nicht sagen", meinte Angela Merkel, mit einem angedeuteten verlegenen Lächeln auf dem Roten Teppich stehend.
Die Konfliktlinien rund um den Aufbaufonds für die von Corona erschütterte Wirtschaft und den sieben Jahre währenden EU-Haushalt seien "gut aufgearbeitet", sagte die Kanzlerin. "Es gibt viel guten Willen. Aber es gibt auch viele Positionen. Und so werde ich mich mit dafür einsetzen. Aber es kann auch sein, dass es heute zu keinem Ergebnis kommt." Eine weitere Verlängerung des seit Freitag andauernden Sitzungsmarathons schloss Angela Merkel mehr oder weniger aus. Der dritte Gipfeltag, der heutige Sonntag, sei der entscheidende.
Die sonst üblichen Nachfragen von Journalisten an die eintreffenden Gipfelteilnehmer waren nicht möglich. Um Corona-Infektionen auszuschließen, sind Journalisten bei diesem ersten physischen Sondergipfel nicht im Gebäude zugelassen. So ist es relativ schwer zu erfahren, was in den Tagungsräumen der EU-Granden tatsächlich abläuft. Auch die Größe der Delegationen wurde eingedampft. Die Staats- und Regierungschefs dürfen nur sechs statt der sonst üblichen 20 Mitarbeiter mitnehmen, um besser Abstand halten zu können.
Volumen und Verteilung noch umstritten
Die Europäische Union hatte sich vorgenommen, ein Finanzpaket von insgesamt 1,8 Billionen Euro zu schnüren, um den Folgen der Corona-Pandemie zu begegnen. Die EU-Kommission erwartet die stärkste Rezession und die höchsten Arbeitslosenquoten in der Geschichte der EU. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zu Beginn noch gemahnt: Die Welt schaue auf Europa und beobachte, ob es der EU gelinge, gemeinsam aus der Krise herauszukommen.
Der ständige Vorsitzende der Gipfelrunde, Charles Michel, soll zusammen mit Angela Merkel einen dritten Kompromissvorschlag vorlegen, um die unterschiedlichen Positionen unter einen Hut zu bringen. Die sogenannten sparsamen Staaten - also eher reichere Netto-Zahler in den Haushalt - fordern, das Volumen der Zuschüsse im Aufbaufonds zu reduzieren. Zu den bisherigen "Sparsamen Vier"(Niederlande, Dänemark, Schweden, Österreich) hat sich jetzt auch offiziell Finnland hinzugesellt. Diese fünf Staaten wollen nur 300 Milliarden Euro statt der bislang geplanten 500 Milliarden Euro auf den Tisch legen.
Die Empfängerländer Spanien, Italien, Griechenland, Polen und andere lehnen das als Zumutung ab. Italienische Medien werten das am Sonntagmorgen als "Angriff auf Italien." Der italienische Ministerpräsident Giuseppe Conte sagte am Samstag, der Streit vor allem mit den Niederlanden sei noch nicht gelöst. Man brauche eine klare und starke Antwort im Kampf gegen die Wirtschaftskrise.
Streit gibt es außerdem um die Frage, wie die Verwendung der Gelder kontrolliert werden soll. Die Niederlande fordern ein Vetorecht, wenn Italien bestimmte Projekte finanzieren will. Premier Conte weist das zurück. Er ist höchstens zu Kontrollen bereit, die eine Mehrheit der EU-Mitglieder beschließen müsste. Ein Vetorecht kommt für ihn nicht in Frage.
Ungarn, Polen und Slowenien wehren sich gegen das Ansinnen, die Einhaltung der Rechtsstaatlichkeit mit der Auszahlung von Mitteln aus dem EU-Haushalt zu verknüpfen. Viele Mitgliedsstaaten hatten das unterstützt, um die Erosion der Rechtsstaates in Polen und Ungarn sozusagen über den Geldbeutel zu stoppen. An diesem Punkt droht der ungarische Premier Viktor Orban mit einem Veto gegen das gesamte Billionen-Paket. Am Ende müssen alle EU-Mitgliedsstaaten den Aufbaufonds und den Haushalt einstimmig billigen.
Vergebliche Mühen
In der Nacht hatten Bundeskanzlerin Merkel und der französische Präsident Emmanuel Macron noch versucht, nach dem eigentlichen Gipfel an einer Hotelbar mit den sparsamen Fünf ins Gespräch zu kommen. Zuvor waren förmlichere Vermittlungsgespräche gescheitert. Der niederländische Premierminister Mark Rutte, der auf dem Gipfel von seiner Position noch wenig abgerückt ist, berichtete, Merkel und Macron hätten die Vermittlungsgespräche "beleidigt" und vorzeitig abgebrochen.
Der französische Präsident Macron gab sich zu Beginn des dritten Gipfeltages ein wenig zuversichtlicher als die Kanzlerin. Ja, ein Kompromiss sei möglich, meinte Macron beim Betreten des Europa-Gebäudes, aber "wir dürfen unsere europäischen Ambitionen nicht opfern". Macron hatte stets die historische Dimension dieses Sondergipfels betont. Es sei die Stunde der Wahrheit für Europa. "Wir brauchen Einigkeit", mahnte er.
Europapolitik-Experte Olaf Böhnke sagte der DW, ein weiterer Sondergipfel Ende Juli sei wahrscheinlich. Die Differenzen seien im Moment zu groß.