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Politik

Brasilien ein Jahr nach Dilma Rousseff

Jean-Philip Struck
12. Mai 2017

Vor einem Jahr übernahm Michel Temer die Präsidentschaft von der suspendierten Dilma Rousseff. Er stilisierte sich zum Retter der Nation, zum Präsidenten aller Brasilianer. Doch davon ist wenig übrig, meinen Experten.

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Brasilien Präsident Michel Temer
Bild: Getty Images/AFP/E. Sa

"Rede nicht von Krise, arbeite!" Diesen Satz hatte Michel Temer (Titelbild) als Vizepräsident auf einem Werbeplakat gelesen. Und er zitierte ihn, als am 12. Mai 2016 das Amtsenthebungsverfahren gegen Dilma Rousseff eröffnet wurde und er kommissarisch das Präsidentenamt übernahm.

In seiner Antrittsrede als Interimspräsident versprach er, das Land zu befrieden und eine Regierung zur ″Rettung der Nation″ aufzustellen. Doch noch in derselben Rede weckte er Zweifel am gerade gesagten. Denn als Temer sein Kabinett vorstellte, nannte er fast ausschließlich Namen von "weißen Männern", wie Medien, Vertreter der Zivilgesellschaft und ausländische Beobachter umgehend feststellten. Ein Querschnitt der brasilianischen Bevölkerung war das nicht.

Zweifelhafte Minister

Bis dahin hatte man Temer durchaus zu getraut, bei den Brasilianern eine gewisse Anfangseuphorie zu wecken. Nach dem politischen Chaos und der wirtschaftlichen Krise, die während den eineinhalb Jahren von Rousseffs zweiter Amtszeit geherrscht hatten, winkte ein Neuanfang. Doch diese Euphorie trat nie ein. Schon Ende Mai war Temer zwei seiner Minister los.

Brasilien Romero Juca
Romero Juca Bild: Jose Cruz/Agencia Brasil

Zuerst trat Planungsminister Romero Jucá zurück, nachdem neue Indizien für seine Verwicklung in den Korruptionsskandal "Lava-Jato" aufgetaucht waren. Dann nahm Fabiano Silveira den Hut. Der Anti-Korruptionsminister hatte den damaligen Senatspräsidenten Renan Calheiros beraten, wie er sich in den gegen Calheiros laufenden Korruptionsermittlungen an besten verhalte.

Dies hielt Temer jedoch nicht davon ab, weitere umstrittene Figuren in sein Kabinett zu berufen - wie Osmar Serraglio, der als Justizminister verdächtige Minister schützen sollte und inzwischen selbst im Zentrum von Ermittlungen steht - im brasilianischen Gammelfleischskandal.

Unbeliebte Reformen

Ein Jahr nachdem Temer das Präsidentenamt übernommen hat, ist er unbeliebter als Rousseff es je war: Ende April gaben nur vier Prozent der Befragten Temer als Präsident ihre Zustimmung. 92 Prozent gaben an, dass Brasilien in ihren Augen auf dem falschen Weg sei.

Dies betrifft nicht nur Personal-, sondern auch Sachfragen: Die Gesetzesvorschläge der Regierung werden weitgehend abgelehnt. Laut einer gerade veröffentlichten Studie ist kaum jeder fünfte Brasilianer mit den Änderungen am Arbeitsmarkt und in der Sozialversicherung einverstanden.

Symbolbild Wirtschaft in Brasilien
Spiegelbild der Wirtschaft Brasiliens - der Hafen von SantosBild: picture alliance/dpa/W. Rudhart

Temer scheint sich daran kaum zu stören, sagen politische Beobachter wie Thomas Manz, Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Brasilien: "Seine wenigen Unterstützer, zumeist Unternehmer, sehen darin sogar einen Vorteil." Temer versuche seine Reformen unbesehen der öffentlichen Meinung durchzusetzen, so Manz, womit er das bestehende Misstrauen der Brasilianer in das politische System natürlich bestätige. Der heutige Jahrestag, so Manz, markiere das Ende der 'Neuen Republik', die auf die Verfassung von 1988 zurückgeht: "Dies ist die erste Regierung seit Wiedereinführung der Demokratie, die nicht soziale Fortschritte als Priorität hat."

Rückbau von Sozialleistungen

Für Gerhard Dilger, Leiter der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Brasilien, ist Temers erstes Jahr überhaupt nicht mit der klassischen Treffer-Fehler-Formel zu bewerten: "Brasilien erlebt eine Art Ausnahmezustand unter dem Deckmantel demokratischer Normalität." Dilger sieht die grundsätzliche Legitimität der Regierung nach wie vor kritisch. Das Verfahren gegen Rousseff ist höchst umstritten, da es zwar formell korrekt geführt wurde, die Vorwürfe aber juristisch nicht ausreichend für eine Amtsenthebung waren.

Weder die Korruptionsskandale, noch der Rückbau des Sozialsystems haben Kai Michael Kenkel vom Hamburger GIGA-Institut für Lateinamerikastudien überrascht: "Genau das war ja Hauptziel des Impeachments gegen Dilma Rousseff." Dennoch zählt Kenkel die Kürzungen der Bildungs- und Gesundheitsausgaben zu Temers größten Fehlern, weil Brasiliens Arbeitskräfte nicht in der Lage seien, den anstehenden Privatisierungsprozess ohne staatliches Auffangnetz zu bewältigen.

Scherbenhaufen geerbt

Immerhin: Die Inflation ist seit Mai 2016 von 9,3 auf 4,1 Prozent gefallen. Dafür aber liegt die Arbeitslosigkeit mit 13,7 Prozent auf einem historischen Hoch. Der Schweizer Politologe Rolf Rauschenbach von der Universität St. Gallen gibt dafür nicht allein dem neuen Präsidenten die Schuld. Temer habe von Rousseff - vor allem wirtschaftlich - einen Scherbenhaufen übernommen. "Nicht einmal ein Genie hätte darauf eine passende Antwort gefunden", sagt Rauschenbach. "Allerdings hat Temer extrem wenig vorzuweisen. Es fehlt ihm an Kreativität, Mut und Ambitionen, um die wirklich notwendigen Reformen einzuleiten."

Trotz aller Skandale - in und um die Regierung - habe sich die politische Situation im Vergleich zu den letzten Monaten unter Dilma Rousseff zwar etwas beruhigt. Dennoch fragt sich Rauschenbach, was für ein Land Temer 2018 zu übergeben gedenkt: "Seine Reformen begünstigen ausschließlich seine eigenen politischen Verbündeten. Nichts davon lässt auf eine institutionelle Normalität nach den nächsten Wahlen hoffen."