"Die Würde des Menschen ist antastbar"
8. Juni 2018Zu viert gehen sie durch die Straßen der zerstörten irakischen Stadt Mossul. In den Ruinen links und rechts der Straßen suchen sie nach Leichen oder Leichenteilen. Die Männer und Frauen in den weißen Schutzanzügen haben sich freiwillig für diesen Dienst gemeldet. Sie, Bürger dieser Stadt, haben sich zu einer quälenden Aufgabe verpflichtet: die sterblichen Überreste jener Menschen zu finden, die dort in den vergangenen Jahren gestorben - und das heißt in der Regel: ermordet worden - sind.
Mossul, die zweitgrößte Stadt des Irak, wurde im Juni 2014 von Kämpfern der Terrororganisation "Islamischer Staat" (IS) eingenommen. Drei Jahre, bis zur endgültigen Befreiung durch irakische Truppen im Juli 2017, stand sie unter der Herrschaft der Dschihadisten. Für die Bürger der Stadt war es ein Martyrium.
Vom Wert des Menschen
In Mossul, sagt DW-Moderator Jaafar Abdul-Karim, habe er fast den Glauben an vieles verloren, was er bislang für verbürgt hielt. Wert und Würde des Menschen habe er bislang für zerbrechlich, aber doch für gegeben gehalten. "In Mossul hatte ich aber den Eindruck, die Würde des Menschen ist eben doch antastbar." Der Mensch, so sein Eindruck, habe hier während der Herrschaft des IS kaum etwas gegolten. "Nicht einmal ein toter Mensch hat hier noch Würde. Sie gilt dort nicht mehr. Niemand interessiert sich für die Überreste der Menschen." Zumindest, schränkt er ein, tun das nur sehr wenige.
Inmitten von Mossul, in einer bizarren Trümmerlandschaft, moderiert Abdul-Karim eine Runde von "Shababtalk", der Sendung im arabischen Programm der Deutschen Welle, die sich um die Belange junger Menschen aus und in der arabischen Welt kümmert, und deren Gäste zumeist auch jung sind. Denn gerade die jungen Menschen, ist Abdul-Karim überzeugt, brauchen in der arabischen Welt eine Bühne.
Allgegenwärtiger Tod
Zu Wort kommt eine junge Frau, dem Äußeren nach zu urteilen, knappe 20 Jahre alt. Sie und ihr Team suchten nach Leichen, die sie dann der Rechtsmedizin übergeben, berichtet sie in der Sendung. Doch die meisten Leichen würden nicht untersucht und nicht identifiziert. Die Gerichtsmediziner seien nicht sonderlich engagiert, sagt sie. Die wesentliche Arbeit würden die Bürger Mossuls leisten.
Menschen wie jene Frau etwa, die Abdul-Karim während ihrer Arbeit begleitet. Überall gebe es Leichen, erklärt sie, Leichenteile, einzelne Gliedmaßen, die Überbleibsel von Händen, Füßen, auch verstümmelte Körper. Sie sammle die Leichen ein, um so auch den Tod ihrer Schwester zu verarbeiten. Die sei von den Schergen des IS ermordet worden. Ihren Vater habe das so mitgenommen, dass er einen Schlaganfall erlitten habe. Auch seinetwegen tue sie diese Arbeit. Es ist eine Arbeit für die Gemeinschaft. Und wohl auch für die Zukunft - die der Stadt wie auch die persönliche.
Albtraum auf Albtraum
Die Arbeit, meint Abdul-Karim, sei wohl auch eine Art, das Leben in die Stadt zurückzuholen. "Die Menschen sind derart schockiert, dass sie fast in eine Art Starre verfallen. Zugleich lassen sie sich nach der dreijährigen IS-Herrschaft durch kaum mehr etwas erschüttern."
Die Schrecken prägen die Stadt nach wie vor. Ein Video zeigt Abdul-Karim und die junge Frau beim Abstieg in einen Keller. "Dieser Raum hier war voll mit 150 Menschen", erklärt sie ihm. "Alle sind erschossen worden." Gleichwohl haben die Mörder einen bizarren Ordnungssinn erkennen lassen: Unten lagen die Männer, darüber die Frauen und auf ihnen die Kinder. "Allen wurde eine Kugel durch die Stirn geschossen", berichtet die junge Frau.
Ihren letzten Albtraum erlebten die Bürger der Stadt während des Kampfes um deren Befreiung vom IS. Über Monate hatte sich die irakische Armee, unterstützt von überwiegend schiitischen Milizen, auf die Rückeroberung der Stadt vorbereitet. Über Wochen hatte sie militärisches Gerät in die Region gebracht, dann zog sie, unterstützt von der US-amerikanischen Luftwaffe, den Kreis immer enger. Straße um Straße kämpften sich die Soldaten vor, lieferten sich erbitterte Schusswechsel mit den Terroristen. Die scheuten sich nicht, die Bürger der Stadt als menschliche Schutzschilde zu missbrauchen. Tausende Zivilisten kamen bei diesem Befreiungskampf ums Leben, ganze Stadtviertel wurden zerstört.
In dieser apokalyptischen Umgebung fand die Diskussionsrunde von Shababtalk statt. "Auch wenn die Lage so furchtbar ist, die Menschen vor Ort erleben die Gegenwart als Stunde Null", umreißt Abdul-Karim seine Eindrücke. "Es kann nur aufwärts gehen. Es ist derzeit sehr schlimm. Aber es ist immer noch besser als die Zeit des IS."
Schreckensherrschaft des IS
Die Zeit des IS haben die Menschen als eine permanenter Unterdrückung erlebt. "Die Menschen sagen, sie wüssten jetzt, was das Wort 'Freiheit' bedeutet. Sie sprechen von der Freiheit, zu atmen, frei zu denken, sich frei zu bewegen, frei zu sein, wer man ist." Niemand wusste, ob er vom Einkaufen zurückkommen würde. Es konnte immer sein, dass die Menschen in den Augen der Terroristen etwas falsch gemacht hatten und dafür drakonisch, im Zweifel mit dem Tode bestraft wurden, fasst Abdul-Karim seine Gespräche mit den Überlebenden zusammen.
Vor allem die Frauen hätten gelitten. "Viele Frauen, die ich an der Universität getroffen habe, waren während der ganzen Zeit der IS-Herrschaft nicht dort. Die Eltern hatten ihnen verboten, das Haus zu verlassen, weil sie Angst um sie hatten. Manche Frauen sind drei Jahre durchgehend zu Hause geblieben. Manche haben sich im Selbststudium gebildet, mit Hilfe von Büchern und dem, was sie zu Hause vorfanden."
Abschied vom Konfessionalismus
Die Schrecken hätten die Menschen nachdenklich werden lassen, so Abdul-Karim. Viele gingen nun auf Distanz zu dem harten Konfessionalismus, der das Land zuletzt geprägt habe. Das gelte insbesondere für die junge Generation, die die Mehrheit der Gesellschaft bilde. "Sie sagen, es reiche ihnen. Sie merken, wie die Religion instrumentalisiert wird, um sie, die jungen Menschen, klein zu halten und ihren freien Willen zu unterdrücken. Man sieht deutlich, dass sie diesen Zustand überwinden wollen. Man sieht, wie junge Sunniten, Schiiten und Christen Hand in Hand zusammenkommen und zum Beispiel die Bibliothek in Mossul wieder aufbauen."
Der Irak könnte sich wandeln, beobachtet Abdul-Karim. Die jungen Leute wollten ihr Land verändern. "Sie haben ungeheure Energien. Mit ihnen kann es besser werden - nicht aber mit den Politikern. Denn die nutzen den Konfessionalismus immer noch für ihre Zwecke aus."