Doch kein Mahnmal für die Opfer des NSU?
27. Juni 2019Noch ist das ehemalige Bahngelände in Köln-Mülheim leer. Geht es nach den Plänen des Berliner Künstlers Ulf Aminde, soll sich hier, am Eingang der Keupstraße, schon bald eine Betonplatte ausbreiten. Sie wäre exakt so groß wie das Fundament des gegenüberliegenden Friseursalons, vor dem am 9. Juni 2004 die Nagelbombe des rechtsextremen NSU explodierte. 22 Menschen wurden dabei verletzt, vier davon schwer.
Wer sich der Plattform nähert, kann aus ihr virtuelle Wände in den Himmel wachsen lassen, über die wiederum kurze Filme flimmern. Eine Smartphone-App mit Augmented Reality macht es möglich. "Die Filme sollen sich mit der migrantischen Perspektive beschäftigen", sagt Aminde.
Eine Begegnungsstätte, die wachsen soll
Sein Mahnmal hat der Künstler als Begegnungsstätte konzipiert, an deren Wachstum sich jeder beteiligen kann, der das möchte. "Alle sind eingeladen, Filme zu produzieren, die von allen gesehen werden können - Anwohner aus dem Viertel, in dem viele Menschen mit ausländischer Herkunft leben, ebenso wie Schüler oder Studierende. Das ist eine ganz wichtige Idee dieses Mahnmals", betont Aminde.
Entstehen soll ein "kritisches Archiv des migrantischen Widerstands". "Wir erhellen so den historischen Kontext, in dem der NSU seine Anschläge und seine Morde verüben konnte", erklärt der Künstler, "wir beleuchten das politische Klima und die Geschichte der rassistischen Gewalt, in die der Bombenanschlag fällt."
Ein "kritisches Archiv des migrantischen Widerstands"
Begegnungsort und lebendiges Filmarchiv, mit dieser Idee überzeugte der Berliner Künstler vor zwei Jahren den Rat der Stadt Köln. Auch die Bewohner der Keupstraße waren begeistert. Doch heute, kurz nach dem 15. Jahrestag des Anschlags am 9. Juni, steht der Bau des Mahnmals wieder in den Sternen – Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker erklärte, das vorgesehene Grundstück gehöre einer privaten Investorengruppe, der sie keine Vorgaben machen könne. Man möge sich nach einem anderen Ort umsehen.
Das aber lehnt Meral Sahin von der Interessensgemeinschaft Keupstraße ab: Ohne Sichtachse zum Ort des Anschlags funktioniere die Installation nicht. Auch Anwohner und die Initiative "Keupstrasse ist überall" kritisieren die Stadt Köln: "Die Verantwortlichen haben immer noch nicht begriffen, welche Bedeutung dieses Mahnmal hat", heißt es in einem offenen Brief, der im Internet zu lesen ist. "Wir sind in Verhandlungen mit der Stadt und mit dem Investor, dem das Gelände gehört", moniert Ulf Aminde gegenüber der DW. "Und im Moment habe ich den Eindruck, dass den Betroffenen das Erinnern an den Anschlag und vor allem das Recht auf Erinnerung verwehrt wird."
Opfer wurden zu Tatverdächtigen
Nicht von ungefähr schlagen die Emotionen in Sachen Mahnmal hoch. Denn erst sieben Jahre nach dem blutigen Nagelbomben-Anschlag wurde die Tat den wahren Tätern zugerechnet - der rechtsgerichteten Terrorzelle Nationalsozialistischer Untergrund (NSU). Bis dahin durften die Opfer nicht Opfer sein: Der damalige Bundesinnenminister Otto Schily hatte einen Terrorakt ausgeschlossen und die Täter "im kriminellen Milieu" des hauptsächlich von Türken bewohnten Viertels verortet. Eine fatale Fehleinschätzung, die Opfer zu Tatverdächtigen machte und das Vertrauen in den Rechtsstaat zerstörte.
War der Staat auf dem rechten Auge blind? Die Frage trieb viele Kulturschaffende um. So beleuchtete der Dokumentarfilm "Der Kuaför aus der Keupstraße" von Andreas Maus die Ereignisse. Noch während sich die juristische Aufarbeitung im Münchner NSU-Prozess wie ein Kaugummi hinzog, lief in den Kinos Maus' Film an – als eine Mischung aus Reportage und Interviews. Vernehmungen ließ Maus von Schauspielern nachsprechen. Originalprotokolle aus den Ermittlungsakten dienten als Quelle. Maus ergriff die Perspektive der Anwohner und ließ sie erzählen, was sie durchgemacht hatten.
Eine wiederkehrende Sequenz zeigte, wie Stahlnägel - begleitet von sphärischen Klängen - in Zeitlupe herabfallen. Der Kunstgriff sollte zeigen: Was nicht sein kann, darf nicht sein. Die ganze Straße stand unter Verdacht", sagte Maus der Deutschen Welle. "Unglaublich, wie die Polizei versucht hat, diese Menschen in eine bestimmte Ecke zu drängen."
"Wer hält seine schützende Hand über die Mörder?"
Doch auch in Theater und Literatur wirkte das Attentat nach. Eine ganz eigene Erzählweise wählte Wolfgang Schorlau, um den NSU-Skandal in Szene zu setzen: In seinem politischen Krimi "Die schützende Hand" ließ auch er die Sicherheitsbehörden nicht gegen die Täter, sondern gegen das Umfeld der Opfer der NSU-Mordserie ermitteln. Akten werden geschreddert, der Verfassungsschutz hat seine Finger im Spiel: "Was, wenn das kein bloßes Behördenversagen ist? Wer hält seine schützende Hand über die Mörder?", fragte Schorlaus Roman.
Nur einen Steinwurf vom Anschlagsort in der Keupstrasse entfernt führte das Schauspiel Köln in seinem Ausweichquartier Nuran David Calis' Theaterstück "Die Lücke" auf. Auch darin erhielten die Opfer eine Stimme - und zwar ganz praktisch: Der Autor, Regisseur und Filmemacher stellte Anwohner und Geschäftsleute zusammen mit Schauspielern auf die Bühne. Zur Darstellung der Geschehnisse reichten wenige Bilder von der zerstörten Keupstrasse und aus einem Überwachungsvideo. Auf einem schiebt einer der beiden Bombenleger sein präpariertes Fahrrad an den Läden vorbei. Fakten, Protokollauszüge und Dialoge wurden vorgetragen. Calis' Botschaft: Die Nagelbombe hat den Graben zwischen türkischer Parallelwelt und deutscher Mehrheitsgesellschaft vertieft.
In Dresden, das über Jahre mit fremdenfeindlichen Pegida-Demonstrationen von sich reden machte, inszenierte das Theater "Mein deutsches Land" von Thomas Freyer die NSU-Chronik als Langzeitkrimi. In Münster brachte das Stadttheater "Auch Deutsche unter den Opfern" von Tugsal Moğuls – ein Parforceritt durch die Faktenflut und die haarsträubenden Ungereimtheiten des NSU-Komplexes. Selbst das deutsche Fernsehen machte die Ereignisse von Köln zum Filmstoff – etwa in "Letzte Ausfahrt Gera - Acht Stunden mit Beate Zschäpe".
"Birlikte - Zusammenstehen"
Jedes Jahr begehen seitdem sehr viele Kölner mit Kunst- und Kulturfesten in Köln-Mühheim den Jahrestag des Nagelbombenanschlags in der Keupstraße - das alles unter dem Motto "Birlikte - Zusammenstehen". Prominentester Gast war 2014 der damalige Bundespräsident Joachim Gauck.
Wird es nun ein Mahnmal für die Opfer des Keupstraßen-Anschlags geben? Die Unterstützer der Idee sind weiter optimistisch, darunter auch Yilmaz Dziewior, Direktor des Kölner Museums Ludwig. Sein Haus stellt die preisgekrönten Mahnmals-Entwürfe einen Monat lang in einer Ausstellung vor. Und Künstler Ulf Aminde findet: "Statt zu sagen, 'es gilt das hohe Gut des Privateigentums zu bewahren', sollten wir die 'Herz-an-der-richtigen-Stelle-Perspektive' einnehmen. Dann sollte ein Lösung möglich sein."
Ab dem 28. Juni zeigt das Museum Ludwig in Köln Ulf Amindes Mahnmal-Entwurf. Die Ausstellung geht bis zum 28. Juli und präsentiert das Mahnmal in einem Maßstab von 1:10.