Divias endloser Alptraum
28. Oktober 2014Wenn sie mit ihren Hunden spielt, kann sie alles vergessen. Zumindest für einen Augenblick. Divia - so nennen wir sie - rettet Straßenhunde vor dem Verhungern. "Tiere sind die besseren Menschen", sagt sie. Fünf Hunde leben mit Divia in ihrer Wohnung. Während die 29jährige Futter aus dem Küchenschrank holt, springen die Hunde bellend an ihr hoch. Auch Divias Zwillingsschwester und eine Freundin leben in der Zweizimmerwohnung im Süden Neu-Delhis.
Das ist ungewöhnlich für indische Frauen, aber die Eltern unterstützen ihre Töchter darin, eigenständig zu leben. Sie finanzierten den beiden aus dem fernen nordöstlichen Bundesstaat Assam das Jurastudium in der Hauptstadt. Der Vater arbeitete als Verwaltungsangestellter, die Mutter ist Hausfrau. Ihre Ersparnisse flossen in die Ausbildung ihrer Töchter. Divias Schicksal hat die Schwestern zusammengeschweißt. "Sie hat sich verändert", erklärt die Zwillingsschwester. "Dieser jahrelange Kampf für Gerechtigkeit hat Divia hart gemacht."
Ein Nachmittag wird zum Alptraum
Ihr Kampf beginnt an einem Nachmittag im April 2009. Ihre Erinnerungen daran hat sie bereits mehrfach vor Gericht zu Protokoll gegeben. "Ich habe diesen Typ bei Facebook kennengelernt", beginnt sie zu erzählen. "Schon seit Wochen hatte er versucht, mich zum Essen einzuladen. Irgendwann habe ich eingewilligt." Divia schlug vor, in einem Restaurant zu Mittag zu essen. Der junge Mann überredete sie schließlich, zu ihm nach Hause zu kommen. "Mir war nicht wohl dabei, aber ich willigte ein. Ich war naiv damals", erklärt sie heute und streichelt einen ihrer Hunde, der sich auf dem Klappbett an sie schmiegt.
"Er war doch erst 24 Jahre alt. Ich dachte, dass er noch bei seinen Eltern wohnen würde. Außerdem kommt er aus einer sehr wohlhabenden Familie und aus einem guten Viertel." Bei ihm angekommen, war die Wohnung bis auf einen Hausangestellten aber menschenleer. "Den Angestellten schickte er weg. Er sollte beim Chinesen etwas zu Essen besorgen. Danach bot er mir Wein an." Divia lehnte ab mit dem Hinweis, dass sie keinen Alkohol trinke. "Nach etwa 20 Minuten begann er, mich anzufassen. Ich stand auf, nahm meine Tasche und wollte gehen. Er hielt mich fest und warf mich auf die Couch. Ich flehte ihn an, aufzuhören. Aber er drohte mir, mich 24 Stunden lang zu vergewaltigen und mir ins Gesicht zu schlagen", erklärt Divia. Er habe alles probiert, von vorne, von hinten, auf ihrem Gesicht. "Ich war noch Jungfrau zu dieser Zeit, deshalb dauerte es eine halbe Stunde, bis er es überhaupt schaffte, in mich einzudringen."
Als er fertig war und von ihr abließ, bemerkte Divia, dass sie stark blutete. "Ich war wie betäubt", fügt sie hinzu und starrt dabei ins Leere. "Danach sagte er mir, dass er alles auf Video aufgenommen habe. Er drohte damit, es zu veröffentlichen, wenn ich nicht stillhalte." Als Divias Peiniger kurz ins Bad verschwand, versuchte sie ein Taxi zu rufen. "Ich konnte mich aber nicht mehr an die Adresse der Wohnung erinnern. Dann kam er aus dem Bad heraus und bot mir an, mich nach Hause zu fahren. Mir blieb ja nichts anderes übrig." An der ersten roten Ampel flüchtete sie aus seinem Auto und rief einen guten Freund an. "Das erste, was ich damals dachte, war, was wohl meine Eltern, meine Freunde und die Gesellschaft von mir denken werden, wenn sie es erfahren."
"Bringt die Vergewaltigte rein"
Divia wird seitdem von wiederkehrenden Alpträumen verfolgt. Sie versuchte mehrfach, sich umzubringen. "In meiner Therapie habe ich dann gelernt, mich nicht mehr als Opfer, sondern als Überlebende zu betrachten, das gab mir Kraft", erzählt Divia. Diese Kraft würde sie auch benötigen, denn vor ihr lag noch ein langer Weg. "Es fühlte sich an wie Folter. Bei der Polizei, im Krankenhaus oder vor Gericht, überall musst du es wieder und wieder erzählen."
Aus Angst, stigmatisiert zu werden, behielt Divia die Vergewaltigung zunächst für sich. Ihrer Zwillingsschwester, mit der sie schon damals in einem Apartment in Delhi lebte, erzählte sie von einem Unfall. Doch nach zwei Tagen platzte es aus ihr heraus, und ihre Schwester wurde zu ihrer engsten Vertrauten. Sie überredete Divia, bei der Polizei Anzeige zu erstatten und begleitete sie ins Krankenhaus.
"Bringt das Mädchen, das vergewaltigt wurde", schallte es quer über den Flur, als sie auf die Aufnahme wartete. Die Ärztin, die sie herein rief, machte auch bei Divia den so genannten Zwei-Finger-Test. Dabei wird die Dehnbarkeit der Vagina getestet. Mittels zwei Fingern, die bei der Betroffenen eingeführt werden, will man herausfinden, ob eine Vergewaltigte zum Tatzeitpunkt noch Jungfrau war, oder schon lange Zeit Geschlechtsverkehr hatte. Mittlerweile ist diese Praxis höchst umstritten und vom Obersten Gerichtshof Indiens als menschenunwürdig eingestuft worden.
Als Divia damals in einem der renommiertesten Krankenhäuser der Stadt untersucht wurde, attestierte ihr die Ärztin, vergewaltigt worden zu sein. Sie notierte, dass im Genitalbereich ein mindestens ein Zentimeter langer Riss klaffe, dass Divia blaue Flecken an Armen und Oberschenkeln, auf dem Bauch und auf der Brust habe - und unterschrieb das Gutachten. Was Divia zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnte war, dass jene Ärztin später vor Gericht behaupten würde, das Gutachten niemals ausgestellt zu haben. "Sie wurde gekauft", erklärt Divia.
"Ich sollte den Täter heiraten"
Bevor es jedoch zum Gerichtsprozess kam, musste Divia bereits schmerzhaft erfahren, was es bedeutet, ein Vergewaltigungsopfer in Indien zu sein. Durch ihre Anzeige wurde der Fall öffentlich. Reporter belagerten alle denkbaren Eingänge rund um ihr Wohnhaus. "Auch die Nachbarn tratschten. Meine Schwester und ich flohen für ein paar Tage aus Neu-Delhi nach Mumbai."
Nach der Rückkehr in die indische Hauptstadt suchten sie gemeinsam eine neue Bleibe. "Viele meiner Freunde meldeten sich nicht mehr, weil sie nichts mit einer Vergewaltigten zu tun haben wollten." Selbst ihr damaliger Freund beendete die Beziehung, nachdem Divia ihm erzählt hatte, was passiert war. "Nur meine Eltern und ein paar enge Freunde hielten zu mir." Eine dieser engen Freunde ist Heema, die vorübergehend bei Divia und ihrer Schwester eingezogen ist und an diesem Abend mit auf dem Klappbett sitzt. "Wir waren einfach nur für sie da und versuchten sie abzulenken. Ich bewundere sie dafür, dass sie sich nicht unterkriegen lässt."
Denn der Gegner, ihr mutmaßlicher Vergewaltiger, versuchte alles Mögliche, um Divias Familie, Prozesszeugen und Bekannte umzustimmen. "Er bot meinem Vater Geld, damit er mich dazu bringt, die Anzeige zurückzuziehen. Meine Freunde und Bekannten erhielten Anrufe. Und dann schlug sein Anwalt auch noch vor, dass wir einfach heiraten sollten. Alles, um einen Freispruch zu erreichen."
Als dies nichts brachte, behaupteten die Verteidiger einfach, dass der Geschlechtsverkehr im Einvernehmen erfolgt wäre. "Im Gerichtssaal klatschten sich Verteidiger und Beschuldigter ab, nachdem sie mich im Kreuzverhör verunsichert hatten. Nach dem Motto 'Wer würde so eine schon vergewaltigen?' versuchten sie mich einzuschüchtern! Das war so demütigend", erzählt Divia. Schließlich folgte die größte Enttäuschung, als der Beschuldigte aufgrund "erheblicher Zweifel an der Aussage der Klägerin" 2011 freigesprochen wurde.
Notfalls bis zum Obersten Gerichtshof
Die 57 Seiten Urteilsbegründung hat Divia bis heute nicht gelesen. Ihre Schwester hingegen schon. "Das ist mittlerweile unser Fall geworden", erklärt sie und blättert in dem mit Pappe eingebundenen Papierbündel vor ihr. "Im Unterschied zu denen halten wir uns an die Regeln", sagt die Zwillingsschwester. Als Juristin wisse sie, wie man vor Gericht kämpft, sagt sie ein bisschen stolz. "Ich habe den Glauben an die Justiz noch nicht ganz verloren. Unsere Berufung hat der High Court akzeptiert und gegen die Ärztin, die behauptet, ihre Unterschrift sei gefälscht worden, läuft ein eigenes Verfahren", sagt die Schwester.
"Wir haben alle Beweise", erklärt auch Divias Anwältin, Rebecca John. Sie vertritt Frauen wie Divia kostenlos vor Gericht. "Es ist das patriarchalische Gedankengut, das sich auch in diesem Prozess durchgesetzt hat." Frauen wie Divia müssten extrem stark sein, um all das durchzustehen. Das Berufungsverfahren werden die beiden Schwestern gemeinsam durchstehen, sagen sie. Auch, wenn sie bis zum Obersten Gerichtshofes des Landes ziehen müssen. Aufgeben, wollen sie nicht. "Die Alpträume verfolgen mich noch immer, aber ich habe gelernt, sie abzublocken", erklärt Divia.