Die Verliererinnen
6. Dezember 2012Sie standen an vorderster Front auf dem Tahrir-Platz in Kairo, auf der Habib-Bourghiba-Allee in Tunis, auf dem Platz der Märtyrer in Tripoli: Frauen haben im Arabischen Frühling Seite an Seite mit den Männern für einen demokratischen Neuanfang gekämpft - erfolgreich. Doch die Früchte ihres Triumphes haben sie nicht ernten können. "Wir beobachten mit Sorge eine Zunahme von sexuellen Übergriffen auf Frauen auf öffentlichen Plätzen und von Verschleierung von Frauen", sagt die Leiterin des Brüsseler Büros von UN-Women, Dagmar Schumacher, im DW-Interview. In Ägypten ist seit Oktober der islamische Sender Maria TV auf Sendung, in dem Frauen ausschließlich vollverschleiert auftreten.
Berichte über die Zunahme von sexuellen Übergriffen in der Öffentlichkeit kommen aus Ägypten ebenso wie aus Libyen. Schumacher befürchtet einen "Rückschritt für Frauen, im Vergleich zur Situation vor dem Arabischen Frühling". Zudem wird in Tunesien diskutiert, ob man in die neue Verfassung, die voraussichtlich im nächstes Jahr verabschiedet werden soll, aufnehmen soll, dass Frauen und Männer "einander ergänzen". Die vollständige Gleichberechtigung, wie sie in Tunesien gesetzlich seit den fünfziger Jahren festgeschrieben war, wäre dann unter der Regierung der islamistischen Ennahda-Partei in Gefahr.
"Die Bloggerinnen, die sich so stark beteiligt haben an den Umwälzungen des Arabischen Frühlings, werden inzwischen zur Seite gedrängt", kritisiert Schumacher, "und wenn es darum geht, Verfassungen auszuarbeiten ist die Gleichberechtigung von Frauen und Männern plötzlich nicht mehr so wichtig. Das führt zu großen Frustrationen bei den Frauen." Zu Tausenden sind sie in den letzten Monaten gegen die geplante Verfassung in Tunesien auf die Straße gegangen.
Frauen – die Verliererinnen im Frieden?
Dass Frauen bei der Neuordnung einer Gesellschaft nach Kriegen oder bewaffneten Konflikten benachteiligt werden, ist kein arabisches Phänomen, betont Heide Göttner von der Hilfsorganisation Amica: "Durch die Konflikte brechen bestimmte Rollenmuster auf", erklärt sie im Gespräch mit der DW. Soll heißen: Frauen treten in die Öffentlichkeit und übernehmen Verantwortung, wo Männer eine Lücke hinterlassen, wenn sie als Soldaten oder Kämpfer in bewaffneten Konflikten involviert sind.
Sobald die Männer jedoch in den zivilen Alltag zurückkehren, werden Frauen häufig zurück an den Herd verbannt, so Göttner: "Als Reaktion auf die anhaltende Gewalterfahrung und die Militarisierung der Gesellschaft wird häufig auf überholte Rollenmuster zurückgegriffen: Frauen werden gezielt in ein Abhängigkeitsverhältnis oder in althergebrachte Rollen gedrängt." In Deutschland war dieses Phänomen besonders deutlich in den 50er Jahren des vergangenen Jahrhunderts zu beobachten: Die sogenannten "Trümmerfrauen" hatten das Land nach dem Krieg wieder aufgebaut, während viele Männer noch in Gefangenschaft waren. In den Jahren der Wirtschaftwunders waren es die Männer, die die Arbeitswelt beherrschten; Frauen kümmerten sich dann um den Haushalt und Kinder.
Männer müssen Frauenrechte kennen
1981 ist die UN-Konvention gegen die Diskriminierung von Frauen in Kraft getreten, die von fast allen UN-Mitgliedsaaten ratifiziert worden ist. Dazu zählen auch die Länder des Arabischen Frühlings. Danach haben Frauen in diesen Ländern nicht nur ein Recht auf Schutz vor staatlicher Diskriminierung, z. B. vor Gericht oder auf dem Arbeitsmarkt, sondern auch auf Schutz vor Gewalt und Menschenrechtsverletzungen im privaten Bereich. Doch solange diese Schutzrechte lediglich auf dem Papier stehen, bleiben sie wirkungslos: "Häusliche Gewalt ist ein Problem, das nicht öffentlich diskutiert wird. Entsprechend ablehnend sind die Reaktionen bei der Polizei und auch bei den Ämtern", weiß Heide Göttner von Amica. Häufig würden hilfesuchende Frauen abgewiesen und zurück nach Hause geschickt.
Die Hilfsorganisation, die 1993 als Reaktion auf die Gewalt gegen Frauen im Bosnienkrieg gegründet wurde, arbeitet deshalb nicht nur mit Frauengruppen. "Die Frauen müssen ein Vertrauensverhältnis zu staatlichen Behörden entwickeln. Deshalb gehört zu unseren Projekten auch immer eine Schulung der Personen in Schlüsselfunktionen bei Polizei, Justiz und den Gesundheits- und Sozialbehörden", so Göttner.
Frauen eine Stimme geben
Die Einbeziehung von politischen und religiösen Führern sei dabei ebenso wichtig wie die Arbeit mit den Ehemännern, Vätern und Brüdern in den Gemeinden, so die Erfahrung von Dagmar Schumacher. "Wir haben im Libanon ein Programm durchgeführt, bei dem wir gezielt den Dialog mit Männern gesucht haben, um mit ihnen über die Gleichberechtigung von Frauen zu reden. Hinterher haben mehrere der Teilnehmer gesagt, dass ihnen vorher gar nicht klar war, dass Frauen und Männer wirklich gleichberechtigt sind." Diese Erkenntnis habe nicht nur "das Leben dieser Männer, sondern direkt das Leben der Gemeinden verändert", bilanziert Schumacher.
Auf den Arabischen Frühling ist für viele Frauen unmittelbar der Herbst gefolgt. Für Dagmar Schumacher ergibt sich daraus die Notwendigkeit, "dass Frauen nach Konfliktsituationen mit am Verhandlungstisch sitzen" müssen. Das sei jedoch nur in den wenigsten Ländern der Fall. Nur so könne aber erreicht werden, dass die Themen, die für Frauen wichtig sind, nicht unter den Tisch fallen.