Die Stunde der Bürgergesellschaft
15. März 2016Fast täglich veröffentlicht das griechische Innenministerium eine Tabelle mit den aktuellen Zahlen von Flüchtlingen und Migranten in Aufnahmelagern und an Aufenthaltsorten. Neben den vier Hotspots auf den Inseln Lesbos, Samos, Chios und Leros, wo die Daten der neu angekommenen Flüchtlinge registriert werden, sind noch 30 weitere Orte auf dem Festland auf der Liste. Kurioserweise wird auch der Viktoria-Platz in Athen angeführt. Noch vor zehn Tagen war er ein Treffpunkt von Flüchtlingen, die hier die Weiterfahrt zur mazedonischen Grenze organisierten. Oftmals richteten sie sich an Schlepper, die ihnen viel Geld abnahmen. Jetzt sorgen Polizeieinheiten dafür, dass auf dem Platz keine Flüchtlinge mehr campieren dürfen. Sie sollen in die Aufnahmelager.
Noch viel Improvisation
Mit der Schließung der Balkanroute scheint auch die Zeit des Wegschauens in Griechenland vorbei zu sein. Seit einigen Wochen entstehen im Eiltempo überall im Land Aufnahmelager für Flüchtlinge - in öffentlichen Gebäuden, ehemaligen Militärlagern und auch im Freien. Am Sonntag wurden 249 Flüchtlinge von Athen in ein Zeltlager in der Nähe der Stadt Volos gebracht. Nachdem sie feststellen mussten, dass der Regen das Areal in eine einzige Schlammwüste verwandelt hatte, weigerten sie sich, dort zu bleiben. Nach langen Verhandlungen mit Vertretern der Behörden wurden sie nach Athen zurückgebracht.
Das ist kein Einzelfall: Auch im Aufnahmelager auf dem Gelände des ehemaligen Athener Flughafens Hellenikon, das aus drei Camps besteht, wird noch viel improvisiert. Seit November 2015 funktioniert das Camp im Hockey-Stadion - nach einigem Hin und Her. Vor 16 Tagen wurde das Camp im Baseball-Stadion eröffnet und vor 14 Tagen jenes in der Flughafenhalle. Die Aufnahmekapazität des gesamten Flüchtlingslagers liegt bei 4000 Menschen. Am Montag wurden fast 200 mehr dort untergebracht. Hará Stangos, die Leiterin des Camps in der Flughafenhalle, schätzt, dass mehr als 90 Prozent der Schutzsuchenden aus Afghanistan stammen. Obwohl immer noch viele Flüchtlinge über die Ägäis nach Griechenland kommen, halten sich sehr wenige auf dem Hellenikon auf. Nachdem sie auf dem Festland ankommen, machen sich die meisten auf den Weg nach Idomeni. Denn sie hoffen immer noch, irgendwie die Grenze nach Mazedonien zu überqueren.
Ohne die Ehrenamtlichen ginge nichts
Im Camp in der Flughafenhalle sind rund 1400 Menschen untergebracht. Leiterin Hará Stangos gehört hier zusammen mit den Leitern der anderen beiden Camps zu den einzigen Helfern, die Angestellte des Migrationsministeriums sind. Ihnen stehen etwa 200 freiwillige Helfer zur Seite, die sich spontan gemeldet haben. Einer von ihnen ist Franco. Der spanische IT-Spezialist kommt täglich nach Dienstschluss um 18 Uhr vorbei. Er springt überall ein, wo es Probleme gibt. Seine griechische Freundin Maria ist schon den ganzen Tag dort. Am Montagabend trifft man sie im Warenlager, wo große Mengen an Essen, Decken, Wäscheartikeln und anderen Gegenständen sind. In einer Ecke sitzen eine Hotelangestellte, eine arbeitslose Französischlehrerin und eine Rentnerin zusammen auf dem Boden und füllen Beutel mit trockenen Früchten, die am nächsten Tag unter den Flüchtlingen verteilt werden. Auf die Frage, warum sie das mache, antwortet eine der Frauen: "Das ist mal etwas Konkretes und nichts Unbestimmtes." Und die pensionierte Filialleiterin einer Bank versichert, bislang sei sie mit dem Essen sorglos umgegangen, hier habe sie gelernt, jeden einzelnen Bissen zu schätzen.
Hará Stangos ist sichtlich stolz darauf, dass es ihr gelungen ist, die Verpflegung der Flüchtlinge durch Spenden zu gewährleisten. Nicht nur die UNICEF leistet ihren Beitrag. Die meisten Lebensmittel spenden griechische Bürger, während Freiwillige täglich für die Flüchtlinge kochen. Zum "Personal" des Flüchtlingslagers gehören auch Mediziner von Hilfsorganisationen wie "Ärzte ohne Grenzen". Sie betreuen die Flüchtlinge sieben Tage die Woche. Das geschehe unter der Aufsicht des Gesundheitsministeriums, versichert Hará Stangos. Es ist ein Versuch, die Rolle des Staates zu unterstreichen, obwohl er an dieser Stelle kaum präsent ist - zumindest noch nicht. Tatsächlich ist dies die Stunde der Bürgergesellschaft in Griechenland. Ohne die Tausenden von Freiwilligen im ganzen Land wäre der Staat kaum in der Lage, den Betrieb in den Flüchtlingslagern aufrecht zu erhalten.