„Die Europäische Union ist auf Belarus nicht vorbereitet“
27. Oktober 2005DW-RADIO/Russisch: Frau Schroedter, warum ist das Europäische Parlament so aufgeregt wegen Weißrussland? Das Land strebt nicht in die EU. Warum widmet das Europaparlament so viel Zeit und so viel Kraft der Frage Weißrussland?
Elisabeth Schroedter: Weißrussland ist unser Nachbar, unser unmittelbarer Nachbar. Das heißt, die Entwicklung in diesem Land geht uns an. Und wir sehen in diesem Fall mit größter Sorge, dass dort wirklich der alte Stalinismus im seiner schlimmsten Form aufgebaut wird. Wir wollen, dass unsere Nachbarländer eine demokratische Entwicklung nehmen. Das bedeutet Stabilität für beide Seiten, für sie und für uns.
Welche Möglichkeiten - praktisch gesehen - hat das Europaparlament, auf die Entwicklungen in Weißrussland einzuwirken?
Eigentlich relativ wenig. Das wissen wir auch. Wir sind ein bisschen in verzweifelter Lage. Wie möchten gerne alle demokratischen Bewegungen in Belarus unterstützen. Wir meinen, sie sind auf dem richtigen Weg. Und wir sind deshalb so aktiv, weil wir eine Lösung finden müssen, um sie zu unterstützen. Das Hauptproblem, das wir haben, ist, dass die EU überhaupt nicht vorbereitet ist, auf eine so schwierige Situation, wie sie in Belarus herrscht. Die EU-Programme für die Nachbarstaaten sind eigentlich für Staaten gedacht, die selbst auch für eine demokratische Entwicklung einstehen, und nicht für Staaten, die wie im Moment das Lukaschenko-Regime den Stalinismus aufbauen. Deswegen können wir mit unseren Verhandlungsinstrumenten dieser Situation nicht begegnen. Es klingt lächerlich, weil man denkt, wieso schafft es diese starke Union nicht, Einfluss auf das Nachbarland zu haben, dass da die demokratischen Kräfte unterstützt werden. Und wir sagen, dass sie keine geeigneten Instrumente hat. Nur wir Abgeordnete können dafür sorgen, dass genügend Druck erzeugt wird, dass diese neuen Instrumente auch installiert werden.
Wie erzeugt man Druck, um das Regime von Lukaschenko zu isolieren und gleichzeitig der Bevölkerung nicht zu schaden, die ohnehin unter diesem Regime leidet?
Das ist genau die große Schwierigkeit. Wir haben nur Programme, die auf Zusammenarbeit mit den Regierungen und den NGOs im gemeinsamen Dialog funktionieren. Wir haben leider keine spezifizierten Programme, die es ermöglichen, in dieser besonderen Situation einzuwirken, wo es eben direkt um die Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen, den demokratischen Kräften geht außerhalb der Regierung. Das hat natürlich mit dem internationalen Recht auf Souveränität zu tun. Wie weit können wir da gehen? Genau diese Frage stellen wir uns. Wie können wir es anstellen, dass die demokratischen Kräfte gestärkt werden?
Man könnte ja sagen, es klingt vielleicht zynisch, die Geschichte achte nicht auf solche Menschen wie Lukaschenko. Die Geschichte entwickle sich weiter. Irgendwann ist das Regime von allein am Ende?
Ich bin davon überzeugt, dass Lukaschenko nicht mehr lange an der Macht sein wird. Er stellt sich selber ein Bein. Die Art und Weise, auf welche er regiert, ist nicht zukunftsfähig, davon bin ich ganz fest überzeugt. Ich arbeite deshalb so intensiv wieder mit diesem Land, weil ich überzeugt, dass es nur noch eine kurze Zeit gibt, in der er sein Regime so aufbauen kann. Die Repressalien werden so stark, dass man merkt, dass er selber Angst hat. Ich komme selber aus einer Diktatur. Das ist ein klassisches, typisches Zeichen für das Ende der Diktatur. Das Hauptproblem, das wir in dem Land haben, ist, dass dort Opposition so schwach ist. Wo sind die neuen Kräfte? Wer sind sie? Warum haben die Menschen immer noch Angst? Warum glauben sie immer noch an Lukaschenko, obwohl er das Land isoliert und aus der Gemeinschaft herausnimmt? Eigentlich sind das die Fragen, die nach wie vor unbeantwortet sind.
Führt der Weg nach Minsk nicht über Moskau? Obwohl Putin und Lukaschenko ihre Streitigkeiten haben, unterstützt Russland das Regime. Ohne Russland wäre das Regime längst am Ende?
Das stimmt. Auf der anderen Seite ist Russland kein demokratisches Vorbild. Wir haben lange die Theorie verfolgt, dass man Putin dazu bringen kann, Lukaschenko nicht mehr zu unterstützen. Das Problem ist, dass Putin ein strategisches Interesse hat, Lukaschenko zu unterstützen. Das wissen wir alle. Im Moment ist die russische Gesellschaft kein Vorbild in den demokratischen Entwicklungen. Ich glaube, dass über Russland nicht der einzige Weg führt. Der Weg führt vor allem über das demokratische Potenzial im Land, was aus meiner Sicht da ist. Immer, wenn ich mit den Leuten zusammen bin, glaube ich, sie haben das Potenzial, sie trauen sich das nur noch nicht selber zu. Das ist das Problem.
Das Interview führte Viktor Agaev
DW-RADIO/Russisch, 26.10.2005, Fokus Ost-Südost