Deutschlands Wirtschaft: Geht es weiter bergab?
2. Januar 2024Die deutsche Wirtschaft wird aller Wahrscheinlichkeit das laufende Jahr mit einem Minus beenden. Es dauert zwar noch, bis die endgültigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes auf dem Tisch liegen, aber in kaum einem anderen Jahr waren sich Wirtschaftsforscher und Industrieverbände so einig: 2023 war ein Jahr der Stagnation mit leicht negativem Vorzeichen. Und für 2024 sehen die Vorzeichen ebenfalls alles andere als berauschend aus.
Oder wie es Moritz Kraemer, der Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), im Interview mit dem TV-Sender Welt mit Blick auf aktuelle Quartalszahlen zugespitzt hat: "Ich möchte nicht darüber streiten, ob es plus 0,2 oder minus 0,2 Prozent sind. De facto stagnieren wir!"
Kraemer vergleicht dabei die anhaltende Wachstumsflaute der deutschen Volkswirtschaft mit einem gewellten Blech: "Wir bewegen uns in einer Art 'Wellblech-Ökonomie'. Es geht mal ein bisschen rauf und runter, aber eigentlich liegen wir platt auf dem Boden."
Die Gründe sind bekannt: Die Menschen in Deutschland halten sich durch die höhere Inflation beim Konsum zurück, die lahmende Weltkonjunktur belastet die Exporteure, die früher der Antriebsmotor der deutschen Wirtschaft waren.
Die ehrgeizige - vom grünen Wirtschafts- und Klimaminister Robert Habeck angetriebene - Transformation der größten Volkswirtschaft Europas kostet viel Geld. Jahr für Jahr fallen zweistellige Milliardenbeträge dafür an.
Dazu kommt, dass durch die nach wie vor hohen Energiepreise in Deutschland zahlreiche internationale Konzerne ihre Investitionspläne für ihre deutschen Standorte auf Eis legen. Sie bauen stattdessen neue Produktionskapazitäten im Ausland auf - vor allem außerhalb der EU, in den USA oder China. Ihr Beitrag zum Wirtschaftswachstum schlägt dann woanders als in Deutschland zu Buche.
Urteil als Wachstumsbremse
Mitte November hatte dazu auch noch das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts für zusätzliche Verunsicherung bei Wirtschaft und Verbrauchern geführt. Das verbietet es, nicht genutzte Milliarden aus einem Corona-Notfallpaket für andere Zwecke zu nutzen. "Für Deutschland kommt es gerade knüppeldick", sagte Thomas Gitzel, Chefvolkswirt der VP Bank. Von staatlicher Seite wären dringend Impulse notwendig. Seine Sorge, dass nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts Sparmaßnahmen der Regierung zu einer zusätzlichen Wachstumsdämpfung führen könnten, scheint sich zu bestätigen.
Nach Einschätzung von ING-Bank-Chefvolkswirt Carsten Brzeski hat das Urteil zwei neue Risikofaktoren für die deutsche Wirtschaft aufgedeckt: Sparmaßnahmen im Haushalt und politische Unsicherheit.
Zusammen mit anderen Faktoren wie gestiegenen Zinsen sei ein baldiges Ende der wirtschaftlichen Stagnation in Deutschland kaum vorstellbar. Zumal Impulse durch staatliche Investitionen ausbleiben, weil die Bundesregierung nach dem Gerichtsurteil auf die Suche nach Einsparmöglichkeiten gehen musste. Das Bundesverfassungsgericht hatte unter Verweis auf die Schuldenbremse entschieden, dass die ursprünglich als Corona-Kredit bewilligten 60 Milliarden Euro im Haushalt 2021 nicht nachträglich umgewidmet werden durften für Investitionen in Klimaschutz und die Modernisierung der Wirtschaft.
Ringen um Einsparmöglichkeiten
Ende November hatte Finanzminister Christian Lindner (FDP) den "Handlungsbedarf" für den Haushalt 2024 auf 17 Milliarden Euro beziffert. Und das, nachdem davor schon eine ganze Reihe von Vorhaben wie die Verlängerung von staatlichen Finanzhilfen ins neue Jahr gestrichen worden waren - etwa bei der sogenannten Strom- und Gaspreisbremse.
Durch das Bundesverfassungsurteil waren vor allem klima- und industriepolitische Projekte von Wirtschaftsminister Robert Habeck bedroht. Sein Ministerium hatte schon kurz nach dem Urteil des höchsten deutschen Gerichts hochgerechnet, dass die Folgen des Urteils im schlimmsten Fall zu einem halben Prozentpunkt weniger Wirtschaftswachstum führen könnten.
Habeck selbst bestätigte Ende November diese Schätzung nach einem Treffen mit seinen Ressortkollegen und -kolleginnen aus den Bundesländern. Gleichzeitig bekräftigte der Minister, trotz des Urteils zum Klima- und Transformationsfonds an den daraus zu finanzierenden Vorhaben festzuhalten. "Alle Projekte, die wir konzipiert haben, müssen möglich gemacht werden", so Habeck.
Nach rund vier harten Verhandlungswochen dann präsentierte die Bundesregierung einen Nachtragshaushalt für 2023, der aber nur durch die erneute rückwirkende Aktivierung der Schuldenbremse zu retten war. Und der neue Haushaltsentwurf für 2024 droht vor allem durch den Mix aus Sparmaßnahmen, Subventionsabbau und höheren Energiepreisen die Wirtschaft weiter auszubremsen und könnte die zuletzt gesunkene Inflation wieder anheizen.
So oder so: Deutschland bleibt Schlusslicht
Schon vor dem Gerichtsurteil und den Mitte Dezember angekündigten Haushaltskürzungen hatte die EU-Kommission Deutschland im kommenden Jahr mit einem erwarteten Plus von 0,8 Prozent als Schlusslicht beim Wachstum in der Euro-Zone gesehen. Die bisherige Konjunkturprognose der Bundesregierung geht für 2024 offiziell noch von einem Plus beim Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 1,3 Prozent aus, nach einem Schrumpfen von 0,4 Prozent im laufenden Jahr.
Legt man die aktuellen Schätzungen der wichtigsten Konjunkturforscher zu Grunde, die sich für 2024 alle deutlich unter einem Prozent Plus beim deutschen BIP bewegen, heißt das: Der deutschen Wirtschaft wird nur noch zugetraut, knapp über Null zu wachsen oder sogar zu schrumpfen. Zuletzt hatte die Industrieländer-Organisation OECD Deutschland für 2024 ein Plus von 0,6 Prozent vorausgesagt.
Das durchschnittliche Wachstum der 38 in der OECD vereinten Industrienationen wird dagegen im aktuellen Economic Outlook vom 29. November mit 1,4 Prozent veranschlagt. Auch 2025 dürfte Deutschland mit 1,2 Prozent unter dem Schnitt der OECD-Länder von 1,8 Prozent bleiben.
Erst Inflation und Energiekrise, jetzt Haushaltskrise
"Die Energiekrise hat Deutschland mehr als andere Staaten getroffen, da die Industrie hierzulande einen wichtigeren Platz einnimmt und die Abhängigkeit von russischem Gas viel höher war als in anderen Ländern", fasst OECD-Ökonomin Isabell Koske die Gründe für die Konjunkturschwäche zusammen. Auch habe die hohe Inflation die Kaufkraft der Haushalte gesenkt und damit den Konsum beeinträchtigt. "Zudem verunsichert die Haushaltskrise Unternehmen und Konsumenten", sagt Koske.
Es sei zentral, "die Haushaltskrise so schnell wie möglich zu lösen, um den Unternehmen und Haushalten Planungssicherheit und Vertrauen in die Zukunft zu geben", fordert die OECD-Expertin. Eine Lösung sollte Kürzungen der Ausgaben, Steigerung der Einnahmen sowie eine Reform der Schuldenbremse umfassen.
Wachstumsprognosen eingedampft
Noch pessimistischer waren Ende November die Konjunktur-Experten der Deutschen Bank. Für Stefan Schneider von DB Research schrumpft Deutschlands Volkswirtschaft auch 2024 weiter. "Die Wachstumsprognose für Deutschland für 2024 wurde in der Woche dieser Veröffentlichung (27.11.2023, Anm. d. Red.) aufgrund des Urteils des Bundesverfassungsgerichts um ein halbes Prozent auf -0,2 Prozent herabgestuft."
Jetzt, nach den von der Bundesregierung im Haushaltsentwurf für 2024 vorgestellten Spar- und Teuerungsmaßnahmen, haben zahlreiche Forschungsinstitute noch einmal den Daumen für die deutschen Wachstumschancen gesenkt. Vor allem höhere CO2-Preise und der Wegfall von Subventionen für die Nutzung der Stromnetze sorgen für einen neuen Wachstumsdämpfer. Das Ifo-Institut korrigierte am 14. Dezember seine Konjunkturprognose für 2024 von 1,4 Prozent Wachstum auf nur noch 0,9 Prozent. Das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) kappte seine Wachstumsprognose von 0,9 Prozent auf 0,5 Prozent. Und die Bundesbank senkte ihre Prognose für 2024 von 1,2 auf 0,4 Prozent.
"Am Ende eines Weges angekommen"
Moritz Schularick, Präsident des Kiel Instituts für Weltwirtschaft und Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Science Po in Paris, brachte die Belastungsfaktoren für die deutsche Volkswirtschaft gegenüber der DW auf den Punkt. Deutschland sei in den vergangenen Jahrzehnten drei große Wetten eingegangen, die dem Land aktuell zu schaffen machten.
"Eine Wette auf russisches Gas als billige Energiequelle für die Industrie, eine Wette auf das chinesische Wirtschaftswunder als Motor für die deutschen Exporte, eine Wette auf Pax Americana, auf das Outsourcing der nationalen Sicherheit nach Amerika." Deutschland sei, so Schularick weiter, "in allen drei Punkten ans Ende eines Weges gekommen sind".