Der Holocaust-Zeuge und seine Reise
21. Januar 2020Und dann ist er am Ziel. Seit knapp zehn Stunden ist Naftali Fürst unterwegs, zuletzt kraxelte der 88-Jährige die 50, 60 rostigen Metallstufen hinauf in den Ausstellungsraum der Essener Zeche Zollverein. Langsam geht er durch die Schau, dann steht er vor seinem großformatigen Foto.
Naftali Fürst stellt sich nicht einfach daneben. Er nimmt das Album mit dem Bild, das er sich auch schon im Flugzeug immer mal wieder angesehen hat. Denn nie reist er ohne dieses Bild. Es zeigt den zwölfjährigen Fürst: kein Bub, sondern ein Gerippe, näher am Tod als am Leben. Naftali Fürst, das jüdische Kind aus Bratislava, im Konzentrationslager Buchenwald, vier Tage nach dessen Befreiung.
Es ist ein langer Tag für Naftali Fürst. Kurz nach fünf Uhr morgens startete das Taxi vor seinem Domizil in Haifa. Kaum graute der Morgen am Mittelmeer, da traf er am Flughafen in Tel Aviv Tochter, Schwiegersohn und zwei seiner Enkel. Gegen Mitternacht wird er wohl wieder daheim sein. Alles für eine große, eindrückliche Schau. Die Zeche Zollverein zeigt 75 Fotos Überlebender der Schoah. Hochbetagte Menschen, die Star-Fotograf Martin Schoeller in Szene gesetzt hat. Er bringt die Gesichter zum Sprechen.
Erinnerungen an den Todesmarsch
Im Flugzeug beginnt Fürst im Gespräch mit der Deutschen Welle vom Todesmarsch zu erzählen, bei dem die Häftlinge, geschwächt und krank, aus dem Osten ins KZ Buchenwald laufen mussten. Auch er, der Zwölfjährige. Ein Weg über viele Tage, durch Schnee, vorbei an Leichen, "jeder Schritt war wirklich eine Qual. Ich erinnere mich, dass ich einen deutschen Bewacher bat, mich an einem Pferdefuhrwerk festhalten zu dürfen, um leichter voranzukommen. Aber er verbot es. Und nun? Jetzt komme ich in einem deutschen Flugzeug zu Kanzlerin Merkel."
Im Flieger der Luftwaffe, bei diesem sehr symbolischen Flug, reist ein knorriger und humoriger älterer Herr, mit schlohweißem Haar und ganz wachen Augen. Es gibt dieses Foto, das Mitte April 1945 im KZ Buchenwald entstand und erst Jahrzehnte später in einer israelischen Zeitung veröffentlicht wurde. Da ist der zwölfjährige Naftali eines der daliegenden mageren Gerippe, das, was das Leid vom Menschen übrig ließ.
"Mein Schmerz bleibt"
"Wir sind keine Geretteten. Wer dort war, der ist nicht gerettet", sagt er jetzt. Er nennt den Titel seines Buches: "Wie Kohlestücke in den Flammen des Schreckens - Eine Familie überlebt den Holocaust." Wie ein verbranntes Stück Holz, gezeichnet fürs Leben. "Mein Schmerz, mein Gedenken bleibt." Als er Stunden später und nach Kanzlerin Angela Merkel spricht, nennt er die Erinnerung an so viele andere, so viele Kinder. 232.000 Kinder deportierten die Nazis nach Auschwitz, nur einige hundert überlebten.
Bei der Eröffnung der Schau sprechen zunächst der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet und die Kanzlerin. Gute, typische Reden von Politikerinnen und Politikern rund um einen runden Gedenktag, diesmal vor dem 75. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz am 27. Januar. Laschet spricht vom Zivilisationsbruch der Schoa, bestialisch und unmenschlich. Merkel wiederholt ihr "Ich empfinde tiefe Scham", das sie vor sieben Wochen bei ihrem ersten Besuch in Auschwitz sprach. Aber anrührender ist der Blick auf die Biographie, auf das Schicksal Naftali Fürsts.
Nie mehr Deutsch
Und dann spricht der Zeuge, in ruhiger Rede, fast erzählend. Wie ihm die Zeit des Holocaust schier Leben nahm, sein weiteres Leben veränderte. Erst 2005 sprach er, der nie mehr nach Deutschland reisen oder Deutsch sprechen wollte, darüber. Heute reist er gelegentlich zu Vorträgen und Gedenkveranstaltungen nach Deutschland oder Österreich.
"Ich glaube, es kann noch einmal geschehen", sagte er sorgenvoll am Morgen im Gespräch. "Das war damals kein anderer Planet. Das haben Menschen gemacht." Derzeit werde die Lage wieder schlechter. Und auch deswegen spricht er als Zeuge. "Ich habe die Pflicht zu erzählen." Denn die Leute sollten nicht glauben, "dass es nicht passiert ist".
Bald nach 16 Uhr, nach Fotos mit der Kanzlerin in der Ausstellung, rollt der Bus mit Fürst und seiner Familie wieder zum Flughafen. Vorneweg und hinterher - es ist Deutschland im Jahr 2020 - Blaulicht. Gen Israel begleitet Verteidigungs-Staatssekretär Peter Tauber die Gäste. Nach einem langen Tag zwischen Vergangenheit und Zukunft.