Gemeinsam gegen den Judenhass
20. Januar 2020Der Angreifer kam von hinten. Er riß dem jungen Mann im Umkleideraum eines Fitnessstudios die Kippa vom Kopf, warf sie in einen Mülleimer, rief "Du schmutziger Jude" und "Freies Palästina". Dieser antisemitische Übergriff traf Ende vergangenen Jahres einen 19-Jährigen in Freiburg im Süden Deutschlands. Einer von jährlich Tausenden Fällen antisemitischer Hasskriminalitätin Deutschland.
"Der Angegriffene war ein Freund von mir, deshalb ist mir dieser Fall besonders nahe gegangen", sagt Arthur Bondarev der DW. Bondarev ist ebenfalls Jude. Er ist orthodox, trägt Kippa und Zizit, Fäden an der Kleidung, die ihn an Gottes Gebote erinnern sollen.
Der 28-Jährige studiert im süddeutschen Konstanz Wirtschaftswissenschaften. Gewalt hat er noch nicht erlebt, aber auch er wurde schon von Judenhassern beleidigt. "Man weiß, dass man sich auf der Straße ab und zu umschauen muss. Man geht mit dem Bewusstsein, dass es Leute gibt, die einen angreifen können."
Der Hass hört nicht auf
Seit dem Altertum gibt es den Hass auf Juden. Christliche Kirchenväter haben ihn kultiviert, im Mittelalter entlud er sich in Pogromen von Granada bis Breslau. In der Neuzeit waren es vor allem Rassisten und Nationalisten, die Juden als Fremde ausgrenzten. Dieser moderne Antisemitismus gipfelte im millionenfachen Mord der deutschen Nationalsozialisten an den Juden Europas. Doch auch nach dem Holocaust gibt es das Hirngespinst, die Welt werde von mächtigen Juden gelenkt, werden Juden in allen Teilen der Welt beleidigt und angegriffen.
Wird das je aufhören? "Aus meiner religiösen Sicht wahrscheinlich erst, wenn der Messias kommt", sagt Arthur Bondarev. "Aber bis dahin ist es unsere gemeinsame Aufgabe, dem entgegenzutreten. Auch wenn wir den Antisemitismus vielleicht nie vollständig besiegen werden, heißt das nicht, dass wir nicht dagegen kämpfen müssen."
"An den Holocaust erinnern, Antisemitismus bekämpfen"
Menschen wie Arthur Bondarev kämpfen diesen Kampf im Kleinen, jeden Tag. Wie der Kampf gegen den Antisemitismus auf der politischen Weltbühne aussehen soll, darüber wollen am 23. Januar in Jerusalem Prinzen, Premierminister und Präsidenten sprechen. Die Gedenkstätte Yad Vashem hat sie unter Schirmherrschaft des israelischen Präsidenten Reuven Rivlin zum fünften "Holocaust Forum" geladen.
Zugesagt haben 40 Staatsgäste, darunter die Präsidenten Russlands und Frankreichs, Putin und Macron, der britische Thronfolger Prinz Charles, US-Vizepräsident Pence und Bundespräsident Steinmeier. Der polnische Staatspräsident Andzej Duda sagte wegen eines Streits mit Putin ab. Die Veranstaltung steht unter der Überschrift: "An den Holocaust erinnern, Antisemitismus bekämpfen". Auf dem Programm stehen Reden, Musik und Kranzniederlegungen.
Bringt solch ein Treffen etwas im Kampf gegenAntisemitismus? Ja, sagt Samuel Salzborn, Professor für Politikwissenschaft an der Universität Gießen und Autor des Buches "Globaler Antisemitismus". "Wir sind momentan an einem Punkt, an dem man die leise Hoffnung haben kann, dass es eine zunehmende Sensibilität in der Politik gibt, dass Antisemitismus tatsächlich ein Problem ist", so Salzborn zur DW. "Ich sage leise Hoffnung, weil immer die Frage ist, was aus Proklamationen letzten Endes an Realität wird, inwiefern sich gute Absichtsbekundungen dann tatsächlich auch in politisches Handeln umsetzen."
Bildung, bevor es zu spät ist
Geht es nach Salzborn, dann sollten die Regierungschefs, die nach Jerusalem kommen, als erstes ihre Bildungspolitik ändern. "Wir müssen uns vor Augen halten, dass niemand als Antisemitin oder Antisemit auf die Welt kommt. Das ist ein Weltbild, das im Laufe eines Sozialisationsprozesses entsteht." Deshalb könne man in der Kindheit und Jugend sehr viel durch Aufklärung und Bildung erreichen. "Wir wissen aber, dass in Schulen viel zu wenig getan wird, dass die Schulbücher defizitär sind."
Habe ein Antisemit sein Weltbild allerdings erst einmal voll ausgebildet, dann sei er für Argumente und Fakten nicht mehr zugänglich, sagt Salzborn. Aber auch dann sei die Politik gefragt, gegen Hasskriminalität vorzugehen. "Dann haben wir es nämlich mit Aufgaben zu tun, die Polizei und Staatsanwaltschaft betreffen, dann geht es um Repression und Sanktion. Und auch hier kann im juristischen Rahmen einiges nachgebessert werden."
Terror in Halle, Pittsburgh, Paris
In einigen Ländern wird derzeit an Gesetzen gearbeitet, mit denen antisemitische Hassverbrechen besser verfolgt werden sollen. Auch in Deutschland hat der Bundesrat eine entsprechende Initiative gestartet, nachdem der Terroranschlag im Oktober 2019 auf die Synagoge von Halle für Entsetzen sorgte. Die Zahl antisemitischer Straftaten ist hierzulande seit 2013 um mehr als von 40 Prozent angestiegen. Erfasst sind dabei nur Taten, die der Polizei gemeldet werden.
In den USA hatte der antisemitische Anschlag auf eine Synagoge in Pittsburgh 2018 besonders viel Aufsehen erregt, in Paris der Angriff von Islamisten auf einen jüdischen Supermarkt 2015. "Antisemitismus, gerade in seiner gewalttätigen Form, ist besonders in den Regionen der Welt präsent, in denen extreme Rechte, völkisch nationalistische und damit auch rassistische Bewegungen besonders stark sind, oder in denen islamistische Bewegungen besonders stark sind", sagt Salzborn.
Ein neues Gotteshaus als Zeichen der Hoffnung
Die Erinnerung an den Holocaust wachzuhalten gilt vielen Experten als wichtigster Baustein im Kampf gegen Antisemitsmus. Das dürfte auch in Yad Vashem wieder deutlich werden. Daneben ist jedoch auch die direkte Begegnung mit Juden entscheidend, um Vorurteile abzubauen, meint Arthur Bondarev aus Konstanz. Unsicherheit und Vorsicht wandelten sich meistens in Interesse, wenn er auf Menschen zugehe, die ihn wegen seiner Kippa erstaunt anschauten, erzählt er.
Bondarev zuzuhören macht Hoffnung, dass der Antisemitismus sich vielleicht doch noch überwinden lässt. Er berichtet vom Wachstum der jüdischen Gemeinde in Konstanz. Besonders bewegend für ihn: die Einweihung einer neuen Synagoge für die 300 Gemeindeglieder im vergangenen November.
"Es war überragend", sagt er. Mit der Torarolle in der Hand sei man, begleitet von Hunderten Menschen, vom alten zum neuen Gebäude durch die Stadt gelaufen. "Wir sind tatsächlich auf der Straße gegangen, von der die Juden vor 80 Jahren deportiert worden sind." Dadurch habe man ein Zeichen gesetzt, "dass der Hass nicht gewinnen wird, dass Antisemitismus und Rassismus nicht gewinnen werden. Wir Juden sind der lebende Beweis dafür."