Der Tsunami in den Gedanken
14. Juni 2005Arjuna Devi hat keine Hoffnung mehr. Die 57jährige Frau lebt in einem Fischerdorf in der Nähe von Cuddalore im südindischen Bundesstaat Tamil Nadu, der am schlimmsten vom Tsunami getroffen wurde. Bis zu 9000 Menschen verloren hier ihr Leben. Jeden Morgen setzt sich Arjuna Devi einige Meter von ihrem Haus entfernt in den Sand. Dorthin, wo die Leichen ihrer Tochter und Enkelin gefunden worden. Oft sitzt sie dort bis zum Einbruch der Dunkelheit. Stumm und ohne das Essen anzurühren, das ihr Verwandte und Nachbarn hinstellen.
Die Helfer verschwanden zu früh
Überall in den vom Tsunami betroffenen Gebieten in Südindien finden sich Menschen mit solch mentalen Traumata. Sie verstecken sich mit ihrem Schmerz und isolieren sich dadurch von der Dorfgemeinschaft. Das erschwert ihnen den Neuanfang nach der Katastrophe, sagt P.M. Amalados, ein Sozialarbeiter: "Nach der Katastrophe waren die Betroffenen sehr traurig und depressiv. Das führte dazu, dass sich solche Leute in die Schlangen (zur Verteilung von Hilfsgütern) einreihten, die überhaupt nicht vom Tsunami betroffen waren und diese dann alle Hilfsmaterialen abstaubten." Jetzt, wo sich die Betroffenen erholt hätten, würde die Verteilung der Hilfsgüter eingestellt. "So bekommen die Trauma-Patienten gar nichts mehr."
Die Helfer blieben nicht lang genug. Ohne ihre Erlebnisse vollends verarbeiten zu können, wurden die Trauma-Patienten nach nur einem Monat Nothilfe erneut verlassen. Und das, nachdem sie bereits Angehörige und ihr Hab und Gut verloren hatten. Zu Recht fühlen sich die Betroffenen nun im Stich gelassen und sind mutlos, findet P. Joseph, einer der freiwilligen Helfer: "Auffällige Symptome sind Wut, Schlaflosigkeit, Sorgen und Angstzustände", sagt Joseph. "Aber wir können die Traumata nicht medizinisch behandeln. Wir übernehmen zunächst nur die Seelsorge und den psycho-sozialen Part." Die tatsächlich Kranken würden an die öffentlichen Krankenhäuser überwiesen.
Kinder als Trauma-Patienten
Zunächst müssen die Sozialarbeiter aber das Vertrauen der Trauma-Patienten gewinnen. Nur wenn die Sozialarbeiter Tag für Tag kommen und mit den Menschen sprechen, öffnen sich diese langsam. Dieser Prozess kann mehrere Wochen dauern.
Doch nicht nur Männer und Frauen leiden unter ihren traumatischen Erlebnissen, auch Kinder sind betroffen. Je jünger sie sind, umso weniger können sie verstehen, was da am 26. Dezember 2004 tatsächlich geschehen ist. Die Katastrophe war für sie ein böser Traum. Kinder ab acht Jahren hingegen können das Geschehene nur schwer verstehen oder gar vergessen. Sie sind verängstigt oder fürchten sich davor, allein zu sein.
Noch immer sterbende Menschen
Viele Kinder hätten an jenem Tag am Strand gespielt und die Flutwelle kommen sehen, sie seien um ihr Leben gerannt und hätten später die Leichen in den Dörfern gesehen, sagt George Heston, Programm-Manager bei einer lokalen Nichtregierungsorganisation. "Wir haben für die Kinder verschiedene Programme organisiert, wie zum Beispiel Malen oder Rollenspiele", erklärt Heston. "Noch immer malen die Kinder Bilder von sterbenden Menschen oder Kindern, die vom Wasser eingeschlossen sind. Diese Erlebnisse sind eben noch ganz frisch in den Gedanken der Kinder."
Bei der Hilfe zählt nicht die Quantität, sondern die Qualität. Das wird gerade bei den Trauma-Patienten deutlich. Wenn Angehörige oder Dorfgemeinschaft ihnen nicht helfen können, müssen die Hilfsorganisationen mit ihren Ärzten und Psychologen einspringen. Gewinnen die Betroffenen ihren Lebenswillen nicht wieder, werden sie ärmer, hilfloser und abhängiger sein als je zuvor.