Der Fall Sami A. - eine Chronologie
16. August 20181997: Der Tunesier reist mit einem Studentenvisum nach Deutschland. In Krefeld studiert er zunächst Textiltechnik, dann technische Informatik und schließlich Elektrotechnik. Er wohnt erst in Köln, später in Bochum.
1999: Ende des Jahres soll Sami A. für einige Monate in ein Ausbildungslager des Terrornetzwerks al-Kaida im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet gereist sein, dann soll er zeitweise zur Leibgarde des Al-Kaida-Gründers Osama bin Laden gehört haben. Sami A. bestreitet das – stattdessen habe er eine religiöse Ausbildung in Pakistan absolviert.
2000–2005: Zurück in Deutschland, betätigt sich Sami A. als salafistischer Prediger. Sicherheitsbehörden halten ihn für einen "ideologischen Brandstifter".
2006: Im März leitet die Bundesanwaltschaft ein Ermittlungsverfahren ein. Der Verdacht: Sami A. sei Mitglied einer terroristischen Vereinigung. Auch das Bochumer Ausländeramt bemüht sich um seine Ausweisung. Sami A. stellt einen Asylantrag, der später abgelehnt wird. Trotzdem darf er bleiben, auch weil seine aus Tunesien stammende Ehefrau inzwischen eingebürgert ist und die gemeinsamen Kinder deutsche Pässe haben.
2007: Das Ermittlungsverfahren wird eingestellt, weil sich der Tatverdacht nicht "mit der für eine Anklageerhebung erforderlichen hinreichenden Sicherheit" erhärten lässt.
2010: Das Verwaltungsgericht Düsseldorf entscheidet im Juni, dass Sami A. nicht abgeschoben werden darf, da ihm in Tunesien Folter und unmenschliche Behandlung drohten. Das Oberverwaltungsgericht Münster bestätigt das Urteil. Auf Grundlage dieser Urteile erlässt das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge ein Abschiebungsverbot.
2014: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, BAMF, widerruft das Abschiebungsverbot und will Sami A. nach Tunesien bringen. Mit dem Verweis, dass sich die Verhältnisse in Tunesien nach dem "Arabischen Frühling" 2011 geändert hätten - Sami A. drohe in seiner Heimat keine Folter mehr.
2016: Das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen entscheidet zugunsten von Sami A.
2017: Im April schließt sich das Oberverwaltungsgericht Münster an. Begründung: Sami A. drohten "mit beachtlicher Wahrscheinlichkeit Folter, unmenschliche oder erniedrigende Behandlung".
2018: Mitte Juni nimmt der Fall plötzlich wieder Fahrt auf.
Die Abschiebung
18. Juni: Das Land Nordrhein-Westfalen bittet die Bundespolizei, eine Abschiebung von Düsseldorf ins tunesische Enfidha vorzubereiten. Das Bundespolizeipräsidium bucht für Sami A. und mehrere Polizeibeamte Plätze für einen Linienflug am 12.Juli.
25. Juni: Die Polizei nimmt Sami A. fest, als sich dieser, wie jeden Tag, bei der Polizeiwache meldet. Die Ausländerbehörde bereitet seine Abschiebung vor, Sami A. wird ins Abschiebegefängnis Büren gebracht. Bundesinnenminister Horst Seehofer macht persönlich Druck: "Mein Ziel ist es, die Abschiebung, zu erreichen." Auch Kanzlerin Angela Merkel äußert sich öffentlich zu dem Fall.
27. Juni: Die Anwältin von Sami A. teilt dem Verwaltungsgericht Gelsenkirchen mit, die Abschiebung ihres Mandanten sei für den 29. August geplant. Sie stellt einen Antrag auf Abschiebeschutz. Das Gericht bittet das BAMF darum, "unverzüglich mitzuteilen", falls eine frühere Abschiebung geplant sein solle. Die Richter wiederholen diese Bitte in den nächsten Wochen mehrfach.
29. Juni: Nordrhein-Westfalen bittet die Bundespolizei, den für den 12. Juli gebuchten Linienflug wieder zu stornieren, "durch den Rückzuführenden könnten Widerstandshandlungen an Bord des Flugzeuges nicht ausgeschlossen werden".
6. Juli: Das Land Nordrhein-Westfalen bittet die Bundespolizei erneut darum, die Abschiebung per Charterflug vorzubereiten.
9. Juli: Das Bundespolizeipräsidium bestätigt dem Land Nordrhein-Westfalen, dass der angefragte Abschiebeflug am 13.Juli stattfinden kann. Auch das Auswärtige Amt wird unterrichtet mit der Bitte, diese Information an die tunesischen Behörden weiterzuleiten.
11. Juli: Nach eigener Darstellung entnimmt das Gericht den Akten der Ausländerbehörde, dass die Abschiebung für den Abend des 12. Juli geplant sei - dem Termin, der laut Bundespolizei zu diesem Zeitpunkt längst nicht mehr aktuell ist. Das Verwaltungsgericht fordert das BAMF auf, eine sogenannte Stillhaltezusage abzugeben - also bis zur Entscheidung des Gerichts nicht abzuschieben. Das Gericht behält sich vor, ansonsten per Eilentscheid einen vorläufigen Beschluss zu fassen, "um bis zur Entscheidung über den Antrag keine vollendeten Tatsachen entstehen zu lassen".
12. Juli: Das BAMF teilt dem Gericht nach Rücksprache mit dem zuständigen NRW-Flüchtlingsministerium in Düsseldorf mit, dass die Flugbuchung für die Abschiebung am 12. Juli storniert worden sei. Von einem Abschiebetermin am 13. Juli ist in der Kommunikation zwischen Gericht und BAMF nicht die Rede. Das Verwaltungsgericht verzichtet auf einen vorläufigen Beschluss und entscheidet stattdessen noch am selben Tag, dass Sami A. nicht ausgeliefert werden darf. Es liege keine "diplomatisch verbindliche Zusicherung der tunesischen Regierung" vor, dass Sami A. in dem nordafrikanischen Land keine Folter drohe. Den 22-seitigen Beschluss hinterlegt die Kammer abends in der Schreibstelle des Gerichts. Diese ist zu dieser Uhrzeit nicht mehr besetzt. Kurz zuvor stellt die Anwältin von Sami A. beim Gericht noch einen Antrag auf Abschiebeschutz.
13. Juli: In den frühen Morgenstunden holt die NRW-Landespolizei Sami A. aus der Abschiebehaft in Büren ab und bringt ihn zum Flughafen Düsseldorf, wo ihn Bundespolizisten in Empfang nehmen. Die Chartermaschine mit Sami A. an Bord startet Richtung Tunesien. Ohne Kenntnis der Abschiebung verschickt das Verwaltungsgericht per Fax seinen Beschluss an die Beteiligten: an die Anwältin von Sami A., das BAMF und die Ausländerbehörde. Wenig später landet Sami A. auf dem Flugfeld von Enfidha, rund 100 Kilometer südlich von Tunis. Die Begleitkräfte der Bundespolizei übergeben ihn den tunesischen Behörden. Das Gelsenkirchener Gericht versucht, die Abschiebung im letzten Moment abzubrechen: Eine Richterin weist die Ausländerbehörde in Bochum darauf hin, "dass der Antragsteller - sollte er sich derzeit noch im Transitbereich des Zielflughafens befinden - zurückzufliegen sei". Die Behörde erklärt laut Gericht, sie habe "keine Kenntnis von den Flugdaten". Das Flugzeug verlässt ohne Sami A. wieder den Flughafen Enfidha. Erst dann erfährt die Bundespolizei nach eigenen Angaben, dass das Gericht die Abschiebung untersagt hat. Am Nachmittag teilt das Verwaltungsgericht mit, dass die Abschiebung "grob rechtswidrig" sei und "grundlegende rechtsstaatliche Prinzipien" verletze. Deshalb sei Sami A. "unverzüglich auf Kosten der Ausländerbehörde in die Bundesrepublik Deutschland zurückzuholen".
Zurück nach Deutschland oder nicht?
14. Juli: Das NRW-Flüchtlingsministerium kündigt Beschwerde gegen den Rückholbeschluss an. Die tunesische Justiz reklamiert derweil die Zuständigkeit für Sami A.
16. Juli: Das Bundesinnenministerium bittet die deutsche Botschaft in Tunis, von den tunesischen Behörden Informationen zum weiteren Vorgehen in dem Fall einzuholen. Nordrhein-Westfalens Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) verteidigt seine Landesregierung: "Wir als Politiker haben nach Recht und Gesetz zu entschieden, das hat die Landesregierung gemacht." Der Bescheid des Gerichts sei zu spät eingegangen.
24. Juli: Tunesien bekräftigt, Sami A. nicht nach Deutschland ausliefern zu wollen.
27. Juli: Die tunesischen Behörden entlassen Sami A. aus der Haft. Der Terrorverdacht gegen ihn habe sich noch nicht erhärtet, die Ermittlungen würden aber fortgesetzt.
13. August: Für Sami A. gilt laut der Stadt Bochum eine Wiedereinreisesperre für Deutschland. Damit würde er an den deutschen wie auch an den Grenzen der europäischen Schengen-Staaten abgewiesen, sollte Sami A. zurückkehren wollen. Sollte das Oberverwaltungsgericht allerdings eine Rückkehr anordnen, würde Sami A. ein Visum ausgestellt.
15. August: Das nordrhein-westfälische Oberverwaltungsgericht in Münster entscheidet, dass Sami A. nach Deutschland zurückgeholt werden muss. Die Abschiebung sei "offensichtlich rechtswidrig" gewesen und hätte am 13. Juli nicht fortgesetzt werden dürfen.