Grenfell Tower: Die Trauer sitzt tief
14. Juni 2018Wenn Hamid Wahbi in der Golborne Road in Londons Westen von seinem Motorrad steigt, gibt es erst einmal ein großes Hallo: Der gebürtige Marokkaner scheint hier, nur ein paar Straßen vom Grenfell Tower entfernt, alle zu kennen, vor allem die Männer, die in den portugiesischen Cafés in der Sonne sitzen, stundenlang mit einem Tässchen schwarzen Kaffees auskommen. Herzliche Begrüßungen, brüderliche Umarmungen, animierte Diskussionen in Arabisch - bis plötzlich ein schwarzer Kleinwagen vorbeifährt, mit heruntergelassener Scheibe, der Beifahrer Hamid eine kurze Begrüßung zuruft, Hamid sie herzlich erwidert. Und dann sagt er leise : "Das war mein Freund Hassan. Er hat seine Frau und seine beiden Töchter im Feuer verloren."
Die Trauer sitzt tief in der Gegend um Grenfell. Hamid Wahbi ist hier zuhause. Er wohnte im 16. Stock des Hochhauses, konnte sich retten, weil er fit war: Er habe immer die Treppen genommen, nie den Lift. Vor dem Brand fühlte er sich stark, ging in seiner Freizeit boxen - nun habe er viel Gewicht verloren, sagt er, während er im Cafe auf der Straße sitzt, nichts isst oder trinkt, weil er den Ramadan einhält: ein schmaler Mann mit fahrigen Gesten, seine Tasche klafft immer wieder auf, große Schachteln mit Medikamenten fallen fast auf die Straße. Jede Woche geht er zum Psychologen, aber geholfen habe ihm das noch nicht: "Stell Dir vor: Von einem Tag auf den anderen passiert eine Katastrophe, zerstört dein ganzes Leben. Ich habe immer hart gearbeitet, aber wofür? Es ist doch alles sinnlos, wenn man so leicht seinen ganzen Besitz verlieren kann."
Glücklicherweise war seine Familie in der Brandnacht nicht in der Wohnung: Sohn und Tochter waren bei Verwandten, die Mutter, die im Rollstuhl sitzt, war in Marokko, um dort den Ramadan zu feiern. Bei dem Gedanken, sie hätte zu Hause sein können, zittert Hamids Stimme. Ältere und gebrechliche Menschen hatten im Inferno, das sich in Windeseile ausbreitete, kaum eine Chance.
Täglich zur Anhörung
71 Menschen kamen vor einem Jahr ums Leben. Aber nicht nur diejenigen, die unmittelbar betroffen waren, haben mit den Folgen zu kämpfen. Der Brand hat die gesamt Gegend erschüttert, denn alle haben ihn miterlebt. Fast die ganze Nacht lang hatte das 24-stöckige Gebäude gebrannt. Alle konnten hören, wie die Eingeschlossenen verzweifelt aus den Fenstern um Hilfe schrieen, konnten sehen, wie sich einige aus dem Fenster stürzten. "Wir haben hier gerade erst damit begonnen, alles zu verarbeiten", sagt Reverend Michael Long von der Methodisten-Kirche in Notting Hill. Wie seine gesamte Gemeinde hat auch er das Feuer aus der Nähe miterlebt.
Mittlerweile ermittelt die Polizei, warum sich das Feuer so schnell verbreiten konnte, und auch eine öffentliche Anhörung will die Umstände der Tragödie aufklären. Viele der Überlebende gehen fast jeden Tag zur Anhörung - so auch Hamid Wahbi. Er ist ungeduldig, will schneller eine Antwort haben, als die Anhörung es verspricht. Fast ein ganzes Jahr lang habe man darauf warten müssen, und Hamid ist nicht sicher, ob sich irgendetwas ändern wird: "Business as usual", danach würde alles weitergehen wie vorher, fürchtet er. Trotzdem will er weiter bei der Anhörung dabei sein, um Antworten auf all die Fragen zu finden, die ihm im Kopf herumgehen.
Die Schuldfrage
Dabei soll in der Anhörung geklärt werden, wer die Schuld trägt: Waren es die Baufirmen, die hoch entzündliches Isoliermaterial geliefert haben? Waren es die Firmen, die das Gebäude instandgehalten haben? Oder waren die gesetzlichen Regulierungen zu schwach? Höchstwahrscheinlich war es eine Kette von Fehlern, die zu der Katastrophe führten. Der Verdacht vieler Anwohner: Weil die meisten Wohnungen Sozialwohnungen waren, wurde an allen Ecken und Enden gespart. Für sie war es Mord, sagt Clarrie Mendy, die ihre Cousine Mary sowie Marys Tochter Khadija im Feuer verloren hat: "Sie haben es nicht verdient, in einem Krematorium in den Wolken ihr Leben zu beenden." Man wolle die Verantwortlichen wegen fahrlässiger Tötung vor Gericht sehen, ergänzt Yvette Williams, eine der Aktivistinnen der Hilfsorganisation Justice4Grenfell.
Wenn die Anhörung Fortschritte macht, die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden, kann es wohl endlich auch für die Opfer weiter gehen. Hamid Wahbi will wieder arbeiten - sein kleiner Straßenstand mit gegrillten Fisch, direkt gegenüber vom portugiesischen Café O´Porto in der Golborne Road, lief gut. Jetzt klafft dort, wo bis vor einem Jahr sein Stand war, eine Lücke, in der Hamid sein Motorrad parkt, wenn er mit alten Kunden und marokkanischen Freunden zusammen sein will. Noch fühlt er sich nicht stark genug, um wieder in seinen Beruf zurück zu kehren, zu Kunden freundlich zu sein, als wäre alles in Ordnung: Er braucht mehr psychologische Unterstützung und endlich eine eigene Wohnung, meint er. Wie viele andere Überlebende wohnt er noch immer in einem Hotel.
Wenn er es endlich geschafft hat, wieder auf die Beine zu kommen, will er es sich zur Aufgabe machen, anderen zu helfen, so gut er kann. Denn in der Nacht des Feuers musste er viele Nachbarn zurücklassen; er konnte sie nicht retten. Aber erst einmal muss er sich selbst helfen - und das Bild in seinem Kopf verarbeiten, das Bild einer ausgebrannten Hochhaushülle namens Grenfell.