EU: Gleichberechtigung von Roma nicht gelungen
7. Oktober 2020Die bislang geltende Strategie der Europäischen Union zur Integration ihrer größten ethnischen Minderheit, Sinti und Roma oder Menschen mit Romani-Hintergrund, hat versagt. Nach zehn Jahren Roma-Politik zog die zuständige EU-Kommissarin für europäische Werte, Vera Jourova, am Mittwoch eine deprimierende Bilanz. "Ganz ehrlich, wir haben in den vergangenen zehn Jahren nicht genug getan", sagte Jourova in Brüssel. Die fortdauernde Diskrimierung von 6,3 Millionen Roma in den Mitgliedsstaaten der EU sei eine hässliche Narbe auf dem europäischen Gewissen, meinte Jourova.
Das soll sich nun ändern, kündigte die EU-Kommissarin an. Mit einem neuen auf zehn Jahre angelegten Plan will die Brüsseler Behörde die Mitgliedsstaaten zwingen, den Sinti und Roma gleiche Lebensbedingungen, Bildungschancen und Rechte einzuräumen wie den übrigen EU-Bürgern. Dabei soll es nicht mehr um "Integration", sondern um "Inklusion" und eine gleichberechtigte Beteiligung der Roma gehen, heißt es in dem Strategiepapier der EU-Kommission. Mit "Roma" bezeichnet die EU die verschiedenen Gruppen wie Roma, Sinti, Fahrende, Kalé, Gens du voyage und andere.
Einbeziehen statt eingliedern
Das ist eine Forderung, die der deutsche Europaparlamentarier Romeo Franz in einem Gespräch mit der Deutschen Welle ebenfalls erhoben hat. "Die Nationalstaaten müssen Antiziganismus bekämpfen, damit Pläne zur Inklusion funktionieren. Den Begriff Integration lehne ich ab, weil Integration sich für jede marginalisierte Minderheit anhört wie Assimilierung. Hier aber geht es um gleichberechtigte Teilhabe", sagte Romeo Franz. Der grüne Abgeordnete, der selbst Sinto ist, hatte dem Europäischen Parlament einen umfassenden Bericht zur Lage der Menschen mit Romani-Hintergrund in der EU vorgelegt.
Antiziganismus sei eine besondere Form des Rassismus und Fremdenhasses, der in vielen Gesellschaften Europas immer noch akzeptiert werde, beklagte die EU-Kommissarin für Gleichberechtigung, Helena Dalli, die die neue Initiative in Brüssel mit vorstellte. Die Kriminalisierung und Marginalisierung der Roma dürfe nicht länger hingenommen werden. So fühlen sich zum Beispiel 52 Prozent aller Franzosen in der Nachbarschaft von Roma oder "Reisenden" äußerst unwohl. Das ergab ein Studie der europäischen Agentur für Grundrechte.
Aktionspläne sollen helfen
Die Mitgliedsländer der EU würden darauf verpflichtet, binnen Jahresfrist eigene nationale Aktionspläne vorzulegen, die die EU-Kommission dann alle zwei Jahre überprüfen werde, kündigte Helena Dalli an. Dieser neue Zehn-Jahres-Plan müsse viel verbindlicher sein als der alte. "Die bisherige Diskriminierung ist nicht zu entschuldigen", sagte Dalli an die Mitgliedsstaaten gewandt.
Als negative Beispiele wurden Tschechien, Ungarn und die Slowakei erwähnt, wo in den Schulen Roma-Kinder von "weißen" Kindern getrennt unterrichtet würden. Die Qualität des Unterrichts sei schlechter als in regulären Schulen. Diese Segregation oder Rassentrennung sei nicht hinzunehmen. Die EU-Kommission hat gegen die betroffenen Regierungen sogar Vertragsverletzungsverfahren angestrengt, bislang ohne große Wirkung.
Auch in Rumänien und Bulgarien klagen Sinti und Roma über Benachteiligung. Die EU-Kommissarin Vera Jourova begrüßte, dass sich auch die Beitrittskandidaten der EU auf dem westlichen Balkan der neuen Strategie anschließen wollten. Zwar leben sechs Millionen Menschen mit Romani-Hintergrund in EU-Staaten, aber weitere fünf Millionen leben in Europa außerhalb der Union. Rund 45 Prozent der Angehörigen dieser ethnischen Minderheit gaben in einer Studie der europäischen Grundrechte-Agentur an, im Jahr 2018 in Geschäften, in einem Restaurant oder am Arbeitsplatz offen diskriminiert worden zu sein.
Vier Fünftel aller Roma-Kinder sind von Armut bedroht. Die Jugendarbeitslosigkeit beträgt in dieser ethnischen Gruppe 62 Prozent verglichen mit 10 Prozent unter den übrigen europäischen Jugendlichen und jungen Erwachsenen. Mangelnde Bildung und Ausbildung sei ein enormes Problem bei der Verbesserung der Lebensbedingungen, kritisiert die EU-Kommission.
"Aufgabe für Generationen"
Die EU-Kommissarin Vera Jourova berichtete, sie sei bei Besuchen in slowakischen Roma-Dörfern erschüttert gewesen, weil viele Menschen dort weder fließendes Wasser noch Zugang zu einer Toilette gehabt hätten. "Wir reden hier von einer Arbeit, die Generationen dauern wird. Aber wir müssen den Anfang machen. Denn wenn wir weiter Antiziganismus tabuisieren und ignorieren, so wie das seit Jahrhunderten in Europa stattfindet, werden wir keine Verbesserung in dieser Sache haben, sondern es werden immer nur Lippenbekenntnisse sein und kleine Strohfeuer", meinte der grüne Europaabgeordnete Romeo Franz zu den Perspektiven einer Inklusionsstrategie im Gespräch mit der DW.
Romeo Franz fordert, die Mitgliedsstaaten gesetzlich zur Umsetzung der Strategie zu verpflichten. So weit gingen die beiden EU-Kommissarinnen heute noch nicht. Auch in den kommenden zehn Jahren werden sie auf den guten Willen der EU-Staaten angewiesen sein. In der Roma-Strategie sollen außerdem nur "Minimal-Ziele" festgelegt werden. Sollten die betroffenen Mitgliedsstaaten diese nicht erreichen, sind keine Sanktionen vorgesehen.