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Politik

"Wir brauchen eine neue Roma-Strategie"

Robert Schwartz
29. Mai 2020

Zu Corona-Zeiten werden Roma in Osteuropa verstärkt stigmatisiert und ausgegrenzt. Im DW-Interview fordert Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, entschiedene Schritte gegen Antiziganismus.

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Slowakei Zehra Polizeibeamte vor  Roma-Siedlung
Polizeibeamte vor einer Roma-Siedlung in der Slowakei: Die Ausgrenzung hat in der Corona-Krise noch zugenommen Bild: Reuters/R. Stoklasa

DW: Vorurteile gegen Sinti und Roma sind in ganz Europa weit verbreitet - Deutschland macht da keine Ausnahme. Sie, Herr Rose, haben diese Vorurteile immer wieder angeprangert und - gerade auch in der gegenwärtigen Corona-Krise - vor zunehmendem Rassismus gewarnt. Werden Sinti und Roma jetzt noch stärker stigmatisiert und ausgegrenzt?

Romani Rose: Die Situation ist ganz besonders in der Entwicklung in Osteuropa für uns besorgniserregend, weil dort durch Rechtsextremisten, Rechtsideologen die Vorurteile gegenüber der Minderheit verstärkt befeuert werden und damit die Minderheit weiter stigmatisiert und ausgegrenzt wird. Und das ist ganz besonders in der Krise gefährlich. Da gibt es Vorurteile, sie seien die Verbreiter von Seuchen und die Roma seien eine potenzielle Gefahr.

Roma - Sündenböcke für Corona-Krise

DW: Beim Ausbruch von Epidemien, Sie haben es kurz angesprochen, wird oft nach Schuldigen gesucht: in Ost- und Südosteuropa - in Rumänien, Bulgarien, auf dem Westbalkan, aber auch in Ungarn oder der Slowakei - sind es oft die Roma, die zu Sündenböcken für den Ausbruch der neuen Krankheit Covid-19 werden. Gibt es eine ähnliche Entwicklung auch in Deutschland?

Es gibt in Deutschland natürlich auch eine Zunahme von Rassismus. Aber wir haben hier eine sensible Öffentlichkeit durch die Medien - und die demokratische Politik ist sich ihrer Verantwortung bewusst und handelt dann dementsprechend. Es gab natürlich auch hier in Deutschland Vorfälle. Ich glaube, wenn ich mir das erlauben darf, gleich vorweg zu sagen: Aufgrund der 600-700-jährigen Geschichte wurden Sinti und Roma - genauso wie Juden - immer zu Sündenböcken erklärt, die man für alle Probleme, die auf eine Gesellschaft zukommen, verantwortlich macht. Und diese Klischees, diese Form von Stigmatisierung haben unsere Minderheit in ihrer langen Geschichte immer wieder ausgegrenzt.

"Sinti und Roma werden verstärkt stigmatisiert!"

Wir müssen endlich dazu übergehen, zwei Dinge zu beachten. Erstens haben wir in Europa eine 600-700jährige Geschichte. Wir sind Bürger der Länder, in denen wir seit Jahrhunderten leben.

Zweitens: Aufgrund dieser vorhandenen, tief verwurzelten Vorurteile, die auf die Geschichte zurückgehen, müssen wir endlich auch im Falle unserer Minderheit den Antiziganismus anerkennen. Wir müssen uns gesellschaftlich und wissenschaftlich damit auseinandersetzen, um diesen Phänomenen genauso mit Verantwortung entgegenzuwirken.

DW: Kommen wir zurück nach Mittel- und Südosteuropa. In den Regionen leben viele Roma unter Elendsbedingungen und oft ohne Möglichkeiten zu einfachen Hygienemaßnahmen. Außerdem konnten viele Roma wegen der Kontaktsperren ihren bisherigen Beschäftigungen wie Schrott-, Flaschen- und Plastiksammeln oder Straßenhandel nicht mehr ausüben. Wie kann dieser sozial so extrem benachteiligten Gruppe geholfen werden?

Zunächst muss man unterscheiden: es gibt die sogenannten Armutsgettos, ohne jede Form von Infrastruktur. Dafür trägt der jeweilige Staat eine Verantwortung. Aber ich möchte auch einem weiteren falschen Bild entgegenwirken, indem man festhalten muss, dass es keine erhöhten Corona-Vorfälle in Bezug auf die Minderheit gibt. Die Arbeitsstrukturen sind natürlich für Roma allein aufgrund der fehlenden Infrastruktur weitaus schwieriger als für die übrige Bevölkerung. Man hat dort eine erhöhte Arbeitslosigkeit und die Leute müssen sich über Wasser halten, über Landwirtschaft, so sie Landwirtschaft haben, oder durch Flaschen sammeln. Das haben wir übrigens hier in Deutschland auch. Da machen das die Rentner, weil sie mit ihrer Rente nicht auskommen.

Romani Rose
Fordert Signale von der Bundesrepublik: Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma Bild: picture-alliance/dpa/B. v. Jutrczenka

Es gibt aber viele Roma, die ihren Berufen nachgehen, die nicht in diesen Elendsgettos leben und damit nicht der Stigmatisierung ausgesetzt sind, die ihre Identität als Angehörige der Minderheit nicht nach außen dringen lassen.

Roma in Südosteuropa haben einen Anspruch auf unser Wertesystem

Die prekäre Lage der Roma in Südosteuropa ist nicht erst seit Ausbruch der Corona-Krise bekannt. Es gab eine Reihe von nationalen und europa-weiten Initiativen und Projekten, man hat viel über Inklusion, über Integration der Roma gesprochen, einiges ist auch tatsächlich umgesetzt worden - und dennoch: in vielen Regionen ist nichts passiert, die Lage vieler Menschen ist weiterhin desolat, die Elendssiedlungen in Südosteuropa sind nicht zu übersehen. Braucht Europa eine neue gemeinsame Roma-Strategie? Kann sich der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma hier stärker einbringen - vielleicht auch im Hinblick auf die deutsche EU-Ratspräsidentschaft, die am 1. Juli beginnt? Das wäre vielleicht eine Möglichkeit, auch die Politik noch einmal auf dieses Problemfeld aufmerksam zu machen.

Genau das sehen wir als unsere Aufgabe an. Wir sind mit der Bundesregierung, mit dem Auswärtigen Amt im Gespräch. Die deutsche Bundesregierung übernimmt jetzt die Ratspräsidentschaft, und wir wollen, dass die Bundesregierung hier Signale setzt, als das Land, das von 1933 bis 1945 ein Beispiel an Unmenschlichkeit gegenüber unserer Minderheit gezeigt hat.

Bulgarien Roma Viertel Stolipinovo
Stolipinovo, ein Viertel der bulgarischen Stadt Plowdiw, gilt als als das größte Roma-Ghetto in Osteuropa Bild: DW/V. Bojilova

Die Bundesrepublik ist in Bezug auf die Situation unserer Minderheit hier in Deutschland für Europa vorbildhaft. Wir brauchen eine Roma Strategie und wir brauchen für die Minderheit in ihren Heimatländern eine stärkere Aufmerksamkeit durch die Medien. Wir wissen, dass es in verschiedenen Ländern Korruption gibt, dass wohl Mittel beantragt werden für die Verbesserung von Infrastruktur, von Wohnungsbau usw. Das Geld erreicht aber die Minderheit nur in den seltensten Fällen. Es gibt in verschiedenen Ländern erste Zeichen einer Umkehr... aber ich glaube, das ist alles nicht ausreichend. Wir brauchen eine Strategie, wir brauchen ein Konzept, und die Bundesrepublik sollte hier ein Zeichen setzen. Natürlich in der Verantwortlichkeit und Zuständigkeit der jeweiligen Länder.

Und wie kann der Zentralrat den Roma in Mittel- und Südosteuropa konkret helfen, um aus dieser Corona-Krise wieder herauszufinden?

Ich glaube, das Entscheidende ist, dass die Roma ihr Bewusstsein dahingehend wahrnehmen, dass sie Bürger des jeweiligen Landes sind, in dem sie seit Jahrhunderten leben.

Serbien Roma in Nis
Roma in Nis, der drittgrößten Stadt Serbiens: Die Menschen müssen sich über Wasser halten, sagt Rose Bild: DW/J. Djukic Pejic

Die osteuropäischen Staaten sind unserem Wertesystem in Westeuropa beigetreten - das beinhaltet die Freiheit der Presse, die individuelle Freiheit, demokratische Rechte, Rechtsstaatlichkeit. Die Roma haben einen Anspruch, dass diese Rechte auch für sie von Staat und Gesellschaft umgesetzt werden. Und das, was wir tun können, ist, die Roma in ihren Bürgerrechtsbemühungen in ihren Heimatländern zu unterstützen. Wir haben hier in Westeuropa, in Deutschland gute Erfahrungen gemacht. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma und das Dokumentationszentrum, viele regionale und landespolitische Organisationen sind inzwischen Gesprächspartner auf Augenhöhe mit der deutschen Politik. Es ist sehr viel erreicht worden, was wir uns vor vierzig Jahren hätten nicht vorstellen können.