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Corona-Politik: Die ungelösten Fragen

Kay-Alexander Scholz
3. November 2021

In Deutschland beginnt die kalte Jahreszeit, die Corona-Zahlen steigen erneut. Was zu erwarten war. Einiges hätte besser vorbereitet werden können. Und viele Fragen sind nach wie vor unbeantwortet.

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Coronavirus - Intensivstation Städtisches Klinikum Dresden
Ein Corona-Patient auf der Covid-19-Intensivstation im Städtischen Klinikum Dresden Bild: Robert Michael/dpa/piucture alliance

1. Wie lassen sich die Hochbetagten schützen?

30.000 der 70.000 Corona-Toten der zweiten Pandemie-Welle im Winter 2020/21 in Deutschland lebten in Alten- und Pflegeheimen, warnte Martin Scherer, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemeinmedizin bei einer Pressekonferenz in Berlin. Damit nicht wieder viele sterben müssten, sei es jetzt wichtig, sich auf diese Bevölkerungsgruppe zu konzentrieren. Es brauche mehr Infektionsschutz, Einträge des Virus in die Heime müssten verhindert werden. Scherer wirkte sichtlich verärgert. Denn es gab bereits wieder Meldungen über Infektionen und mehrere Tote in Heimen.

In anderen Ländern gibt es eine Impfpflicht für Pflegeheim-Beschäftigte, um die Infektionsgefahr zu reduzieren - nicht so in Deutschland. Eine Impfpflicht werde es nicht geben, hatte auch Kanzlerin Angela Merkel immer wieder betont. Der amtierende Bundesgesundheitsminister Jens Spahn argumentiert aktuell mit der Sorge vor einer Spaltung der Gesellschaft bei einer Pflicht zur Impfung. Außerdem könnten gerade dringend gebrauchte - ungeimpfte - Pflegekräfte dann ihren Job hinschmeißen. Allerdings gibt es auch einzelne Stimmen aus den Bundesländern und von Virologen, die das anders sehen.

Angesichts der stagnierenden Impfquote bleibt vor allem eines: testen. Doch hier gibt es bislang keine einheitlichen Regeln. Zuständig sind die Bundesländer. Manche haben schon verschärft. In Brandenburg zum Beispiel müssen sich bei gleichbleibend hohen Infektionszahlen (Inzidenz von mehr als 100 Fällen pro 100.000 Einwohner der vergangenen sieben Tage) die nicht-geimpften Beschäftigten vor jedem Arbeitstag testen. Andere Länder hätten noch keine verpflichtenden Test-Strategien, sagte Spahn bei der Pressekonferenz in Berlin. Bei einem Gesundheitsgipfel von Bund und Ländern sollen deshalb einheitliche Regeln besprochen werden.

2. Boostern für alle oder nicht?

Das Boostern, also eine Auffrischungsimpfung ist einer der derzeit größten Streitpunkte. Auf der einen Seite der Bundesgesundheitsminister, der dafür auch die - teuren - Impfzentren wiederbeleben möchte. Sein Ziel: Boostern für alle (außer Kinder). Rechtlich erlaubt ist das bereits.

Deutschland | Auffrischuzngsimpfung von Minister Spahn
Bundesgesundheitsminister Jens Spahn ließ sich Ende Oktober medienwirksam drittimpfen Bild: Jan Pauls/Bundesgesundheitsministerium/dpa/picture alliance

Doch auf der anderen Seite gibt es Ärztevertreter und die Ständige Impfkommission (Stiko). Sie sagen: Boostern jetzt nur für bestimmte Risiko-Gruppen - und zwar in den Hausarztpraxen.

Die über 70-Jährigen bräuchten eine Drittimpfung am dringendsten, sagt Stiko-Chef Thomas Mertens. Weil bei ihnen der Immunschutz sechs Monate nach der zweiten Spritze stark sinke und die Gefahr einer schwerer Erkrankung wachse. So sei die Datenlage. "Wir geben evidenzbezogene Empfehlungen, haben uns immer daran gehalten und lassen uns nicht beeinflussen", sagt Mertens in Richtung Politik.

Die Ständige Impfkommission empfiehlt zudem eine Auffrischungsimpfung vor allem für das Personal und die Bewohner von Altenheimen sowie für das Personal medizinischer Einrichtungen mit Patienten-Kontakt. Zusammengerechnet wären das 15 Millionen Menschen. Von ihnen haben aktuell 2,2 Millionen eine Booster-Impfung erhalten. Da ist also noch viel Luft nach oben.

Infografik Impffortschritt in Deutschland DE

Allerdings stiegen die Zahlen der Dritt-Impfungen zuletzt erheblich - sogar über das aktuelle Niveau von Erst- und Zweit-Impfungen pro Woche. Wäre noch die Frage: Wer sagt den Leuten Bescheid, dass sie zur Auffrischung kommen sollen? Bislang gibt es nach Angaben von Spahn nur zwei Bundesländer, die zu einer Dritt-Impfung schriftlich einladen.

Es gibt noch eine andere, internationale Komponente in dieser Debatte. Es dürfe nur so viel geimpft werden wie nötig, findet Stiko-Chef Mertens. Auch die Dritte Welt habe schließlich einen Anspruch auf Impfstoff, die reicheren Ländern dürften diesen nicht "vollständig absorbieren".

3. Wer impft weiter?

Impfzentren oder Hausärzte oder beide? Auch hier gibt es noch einiges zu regeln.

Es gibt Hausärzte, die keine Dritt-Impfungen anbieten wollen. Weil es organisatorisch zu schwierig sei. Die Praxen müssen nämlich Impfdosen zwei Wochen im Voraus bestellen und bekommen dann wie gehabt keine Einzeldosen, sondern Sechser-Packs. Weil nichts weggeschmissen werden darf, müssen dann immer auch passend viele Impflinge erscheinen. Doch das geht nicht immer. Der Umgang mit "Verwerfungen" müsse dringend geregelt werden, mahnte Andreas Gassen, Chef der Kassenärztlichen Bundesvereinigung.

Die Lage bei den Impfzentren ist auch nicht einfach. Vom Deutschen Städtetag kam die Warnung, dass viele der Impfzentren inzwischen anderweitig genutzt würden. Schließlich hatten Bund und Länder Ende September, also vor nicht allzu langer Zeit, vereinbart, die Zentren wieder zu schließen beziehungsweise zurückzufahren. "Auch in der Pandemie braucht es ein Mindestmaß an Kalkulierbarkeit von Entscheidungen", merkte der Städtetag verärgert an.

Deutschland Köln 2018 | Einkaufsstraße Hohe Straße
Fußgängerzone in Köln: In Deutschland sind noch mehr als 12 Millionen Einwohner über 12 Jahren nicht geimpftBild: picture-alliance/Geisler-Fotopress

Andere diskutieren einen dritten Weg: "Wir müssen den Impfstoff zu den Menschen bringen und nicht umgekehrt", hieß es vom Gesundheitsexperten der Grünen, Janosch Dahmen. Er rege an, das Personal aus den Impfzentren zu reaktivieren und vollständig für mobile Angebote einzusetzen. Berlin zeigt seit kurzem mit dem "Impfen im Einkaufszentrum", dass es auch einfach geht.

4. Wer entscheidet eigentlich?

Angela Merkel und die Spitzen der Bundesländer hatten vieles in der Corona-Politik an den Parlamenten vorbei entschieden. Das ging, weil es eine offiziell festgestellte "epidemische Notlage" gab. Doch diese Notlage läuft am 25. November aus. Viele Maßnahmen hätten von den Ländern in Eigenverantwortung weitergeführt werden können. Doch die wollen aus rechtlichen Gründen lieber einen vom Bund vorgegebenen Rahmen.

Die mögliche neue Regierungskoalition aus SPD, Grünen und FDP hat sich bereits dazu bereit erklärt. Ein entsprechendes Gesetz soll im Laufe des November fertig werden. Pauschale Lockdowns oder Ausgangssperren soll es dann nicht mehr geben. Und: Die "Dominanz der Exekutive" müsse aufhören und die Entscheidung zurück in die Parlamente kommen. hieß es auf einer gemeinsamen Pressekonferenz.

Doch da sich die Lage nun sehr schnell verschlechtert hat, wird eine erneute Runde von Kanzlerin und Länder-Spitzen diskutiert. Noch ist man sich nicht einig, aber ein Treffen könnte in der kommenden Woche stattfinden. Kommt dann ein Lockdown für Ungeimpfte, wie Gerüchte sagen?

5. Was passiert an den Schulen?

In den deutschen Schulen enden aktuell nach und nach die Herbstferien. Noch vor einigen Wochen hieß es in vielen Bundesländern, die Maskenpflicht im Unterricht werde dann wegfallen. Nun aber schrecken einige Landesregierungen vor diesem Schritt zurück. Jedes Bundesland kann dies selbst entscheiden. Allerdings riefen gerade auch viele Eltern nach deutschlandweit einheitlichen Regeln nicht nur für die Masken, sondern auch für Quarantäne-Maßnahmen. Das ist aktuell nicht in Sicht.

Deutschland Berlin | Pressekonferenz zu möglichen Coronavirus-Maßnahmen - Thomas Mertens
Stiko-Chef Mertens: Bislang kein grünes Licht für die Impfung von KindernBild: Bernd von Jutrczenka/dpa/picture alliance

In einem Punkt herrscht aber Einigkeit: Schulen sollen offen bleiben. Auch wenn es für Kinder unter 12 Jahren noch immer keinen zugelassenen Impfstoff gibt. Das könnte sich erst nach einer EU-Zulassung ändern, vielleicht im Dezember. Die USA als Vorbild zu nehmen, wo impfen für Kinder ab 5 Jahren erlaubt ist, lehnt Thomas Mertens von der Ständigen Impfkommission mit dem Verweis auf den dort anderen "Krankheitsstand" ab, ohne das näher auszuführen.

Alle diese ungelösten Fragen - es gibt noch mehr - sorgen für Verunsicherung in Deutschland. Doch gerade die könnte ein Grund dafür sein, dass die Impfquote in der Bundesrepublik mit rund 66 Prozent im internationalen Vergleich nur mittelmäßig ausfällt.