Berlin-Hype in Israel
31. Oktober 2013"The place to be - be Berlin": An der deutschen Hauptstadt kommt in Tel Aviv derzeit kaum einer vorbei. Egal, ob am Habima-Theater, an der Cinemathek, im Hafen von Jaffa oder an der Betonfassade des "Weißen Elefanten", wie der Busbahnhof genannt wird - überall hängen Plakate, die Israelis auf Veranstaltungen mit dem Fokus Berlin aufmerksam machen, darunter Theater, Film, Kunst und auch Clubnächte mit Berliner DJs. Gastgeber der "Berlin Dayz", die noch bis zum 8. November laufen, ist das Goethe-Institut in Tel Aviv. Die Vorbereitung des Mammutprogramms hat ein gutes Jahr gedauert, wie Institutsleiterin Heike Friesel sagt. Das große Interesse der Israelis kommt für sie nicht überraschend: "Man muss eigentlich nur Berlin draufschreiben, und die Leute wollen es haben."
Wie Geschwister: Berlin und Tel Aviv
In der Tat scheint in Israel alles hip zu sein, was mit der deutschen Metropole zu tun hat, besonders unter jungen Leuten. Kaum einer, der keine Freunde oder Verwandte hat, die gerade dort wohnen, kaum einer, der nicht wenigstens schon einmal da war. Viele sprechen über Berliner Stadtviertel wie Friedrichshain oder Prenzlauer Berg, als seien sie gleich um die Ecke. Rund 18.000 Israelis leben nach offiziellen Angaben derzeit in Berlin - eine Gemeinschaft, die noch wächst, genau wie die Zahl der Besuche, die seit dem vergangenen Jahr um 23 Prozent gestiegen ist. Nicht nur das, auch das Interesse an der deutschen Sprache nimmt stetig zu. Deutschkurse an den beiden Goethe-Instituten in Tel Aviv und Jerusalem sind immer gut besucht.
Die Gründe für die Begeisterung sind vielfältig. Berlin und Tel Aviv seien wie Geschwister, heißt es oft. Hier wie dort fühlen sich Freigeister und Kreative zu Hause, es gibt Raum für zündende Geschäftsideen genauso wie für bloße Hirngespinste. In beiden Städten herrsche die gleiche Dynamik, beschreibt es etwa Juval, der sich in Tel Avivs angesagtestem Club "Block" gerade eine Atempause vom Tanzen gönnt. Dort legt in dieser Nacht unter anderen der Berliner DJ Marcel Dettmann auf - ein Teil der Veranstaltungsreihe, der laut Heike Friesel "sehr beliebt" ist. Stimmt, Party machen ist in beiden Städten definitiv eine wichtige Freizeitbeschäftigung.
Berlin bedeutet Freiheit
Man könnte das vorschnell als oberflächlich bezeichnen, aber in Berlin können Israelis eine Last abschütteln, die den Deutschen fremd ist. Viele entfliehen den Erwartungen der israelischen Gesellschaft und der bedrückenden politischen Situation. Lebenswege in Israel sind vorgezeichnet: Schule, Armee, Heirat schon in jungen Jahren und ziemlich schnell auch Kinder. Dazu kommt der von der Religion geprägte Alltag, dem man selbst im säkularen Tel Aviv kaum ausweichen kann. Wer Kritik übt oder unangepasste Ideen hat, tut sich schwer.
Deshalb waren es wohl auch Künstler, die als erste ihren Platz in Berlin gefunden haben. Inzwischen kommen immer mehr Akademiker. "Großartig an Berlin ist die Freiheit", sagt etwa Tal Shamia, ein junger Wissenschaftler, der seit 2001 regelmäßig in Berlin ist. In Deutschland und speziell in Berlin könne man sich von den israelischen Erwartungen lösen, man habe nichts mit diesen Problemen zu tun. "Man kann sich auf sich selbst konzentrieren. Das macht das Leben viel einfacher."
Der Holocaust trennt nicht mehr
Viele, die nach Berlin gehen, sind Enkel oder Urenkel von Überlebenden des Holocaust. Dieser war noch in den 90er Jahren der Grund für die Mehrheit der Israelis, niemals einen Fuß auf deutschen Boden zu setzen. Das hat sich geändert. Man sucht die Annäherung an die Vergangenheit mit einem anderen Blickwinkel. Der Holocaust trennt nicht mehr, sondern ist ein Verbindungsglied. "Beide Länder haben mit der Aufarbeitung zu tun. Man versucht sich gegenseitig zu verstehen", ist Tal Shamias Eindruck. Und: "Die Leute unterscheiden zwischen Geschichte und der Situation heute." Er betrachte Berlin als das, was es sei: eine freie Stadt mit aufgeschlossenen Menschen. Juval geht sogar einen Schritt weiter: "Es ist Zeit, dieses Kapitel zu schließen."
Israel wegwerfen?
Für Heike Friesel sind diese Reaktionen eine Medaille mit zwei Seiten. Keineswegs solle man etwa Israel auf den Holocaust reduzieren, sagt sie. Andererseits hat die 52-Jährige, die schon einmal in den neunziger Jahren Leiterin der Spracharbeit am Institutes war, den Eindruck, dass bei der jungen Generation in beiden Ländern "das fundierte Wissen" über den Holocaust immer weniger werde. Übrig blieben dann halt Bilder, Stereotypen und Schlagworte.
Letzterer bedienen sich gern auch israelische Politiker. So kritisierte jüngst Finanzminister Jair Lapid Landsleute, "die bereit sind, das einzige Land, das die Juden haben, wegzuwerfen, weil es sich in Berlin gemütlicher leben lässt". Er erreicht damit das Gegenteil: "Er weiß nicht, wovon er spricht", sagt etwa Tal Shamia. "Wenn das Land mir nicht das gibt, was ich brauche, dann muss ich hier auch nicht bleiben."