Was die Nazis aus den Synagogen klauten
9. November 2018Sie kamen mit Äxten und Fackeln. In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 stürmten SA- und SS-Männer die "Kleine Synagoge" in Würzburg. Sie randalierten, rissen Lampen von den Wänden, hackten auf die Inneneinrichtung ein. Die Tür des Tora-Schreins splitterte. Bis heute zieht sich der Riss wie eine Narbe die Kassettentür entlang.
Während der Novemberpogrome brannten die Trupps des nationalsozialistischen Regimes rund 1400 Synagogen nieder - und damit etwa die Hälfte aller jüdischen Gotteshäuser in Deutschland und Österreich. Tausende jüdische Geschäfte wurden zerstört. Gut 30.000 Juden verhaftet und in Konzentrationslager gebracht. Viele Menschen starben.
Und die Nazis plünderten, nahmen Tora-Rollen und -Aufsätze, Rabbinergewänder, Chanukka-Leuchter, Kiddusch-Becher und Teller mit - sehr zur Freude deutscher Museumsdirektoren.
Raffsucht als Leitmotiv
"Da müssen wir Museumsmenschen uns selbst an die Nase fassen: Das war einfach eine Gier, möglichst viel zu besitzen und die eigene Sammlung zu vergrößern", sagt Bernhard Purin, Leiter des Jüdischen Museums in München. Museen in Städten wie Aschaffenburg, Mainz, Würzburg und Wien erhielten während der NS-Zeit geraubtes jüdisches Ritualgerät oder eigneten es sich selbst an.
Sogar in kleinen Gemeinden wie Schnaittach bei Nürnberg wurde der Direktor des Heimatmuseums tätig: Weil er in dem Gebäude der Synagoge sein Museum neu einrichten wollte, verhinderte Gottfried Stammler die Zerstörung des Hauses während des Pogroms und sammelte Ritual- und Einrichtungsgegenstände ein – in den darauffolgenden Tagen auch in anderen mittelfränkischen Gemeinden. Experten zufolge war es zeitweilig die "wohl größte Sammlung an Sachzeugnissen jüdischen Lebens auf dem Land in Süddeutschland".
Sieben Kisten mit jüdischem Material
Übertroffen wird diese jetzt aber durch einen Fund im Mainfränkischen Museum - heute Museum für Franken - in Würzburg. Beim Versuch, die gesamten Bestände zu inventarisieren, stießen Mitarbeiter 2016 auf mehrere Kisten mit Tora-Schildern und -aufsätzen, Bechern, Leuchtern und anderem. Die rund 150 Objekte waren teils bis zur Unkenntlichkeit zerstört, weil das Museum 1945 bombardiert worden war.
Zwei Jahre lang hat Purin die Stücke untersucht. "Man muss sich ihnen wie einem Puzzle nähern", sagt er. "Zuerst sitzt man ratlos davor, dann tauchen Merkmale auf, die eine Spur ergeben." Das fertige Bild am Ende: Etwa ein Drittel der Gegenstände wurde während der Novemberpogrome 1938 in Synagogen in und um Würzburg beschlagnahmt. Gezeigt werden sie derzeit im Jüdischen Museum in München - darunter auch der Tora-Schrank mit der zersplitterten Tür.
Enge Zusammenarbeit mit den NS-Behörden
Die Museen nahmen sich das jüdische Eigentum jedoch nicht nur rund um die Pogromnacht; sie erhielten es auch aus Privatbesitz, wenn die Nazis Juden enteigneten. Belege dafür gibt es etwa in den Einzelfallakten der Gestapostelle Würzburg.
Freundschaftsdienste und eine enge Zusammenarbeit zwischen Museen und NS-Behörden spielten dabei eine zentrale Rolle, sagt Purin: "In Würzburg verlief es sehr amikabel: Der Gau-Leiter von Unterfranken war zum Beispiel ein ehemaliger Schulkamerad des Direktors des Mainfränkischen Museums." Und so findet sich in der Ausstellung etwa ein Chanukka-Leuchter aus Miltenberg. Dem Ort, an dem besagter Gau-Leiter am Vormittag des 10. Novembers war. "Wir können aber nur darüber spekulieren, ob der ihn mitgebracht hat."
Interesse am Kunsthandwerk
Ausgestellt wurden die Objekte seinerzeit kaum. Das Naturhistorische Museum Wien präsentierte im Jahr 1939 eine anthropologische Schau über das "körperliche und seelische Erscheinungsbild der Juden". Und in Prag unterhielt die SS das "Jüdische Zentralmuseum".
Den Direktoren ging es häufig ohnehin mehr um den kunsthandwerklichen und heimatgeschichtlichen Wert der jüdischen Gegenstände. Die meisten wurden von christlichen Silberschmieden oder - bei den Messingobjekten - Rotgießern hergestellt. "Von München wissen wir zum Beispiel, dass man solche Objekte herausgesucht hat, weil es darum ging, die hiesige Handwerkskunst im Stadtmuseum zu dokumentieren", sagt Purin.
Vordergründig ließ sich also mit dem Dienst an einer vermeintlich höheren Sache argumentieren, meinen auch Christine Bach und Carolin Lange vom Museum für Franken: "Man bewahrte Objekte vor einer Zerstörung und gelangte kostenlos an neue Ausstellungsstücke."
Sichergestellt, verbrannt, verdrängt
In derartige Ausflüchte stürzten sich auch viele Museen nach dem Krieg: In einem Brief bezeichnete etwa ein ehemaliger Aschaffenburger Museumsmitarbeiter die Beschlagnahmung als "Sicherstellung".
Eine andere Version bekam der Schoa-Überlebende Mordechai W. Bernstein zu hören, der nach dem Krieg in Deutschland die Geschichte zerstörter jüdischer Gemeinden recherchierte. Seine Suche brachte ihn auch nach Würzburg. Er zitiert den Nachkriegs-Direktor des Mainfränkischen Museums, Max Hermann von Freeden: "Es herrschte Krieg, totaler Krieg, mein Herr! Und die alliierten Flieger waren tüchtig, oh ja, alles, alles vernichtet!"
"Oft wurde auch behauptet, es seien Objekte aus der Vorkriegssammlung", erzählt Purin. "Die Täter in den Museen haben nach dem Krieg alles versucht, ihre Spuren zu verwischen."
Die Zukunft der Raubkunst
In den 1970er und 80er Jahren änderte sich das langsam. Die Gesellschaft in Deutschland fing an, sich mit dem Holocaust auseinanderzusetzen. Und die Museen folgten. Die aktuelle Ausstellung gab der Debatte jetzt einen weiteren Anstoß.
Denn nach deutschem Recht sind die nach dem Krieg gegründeten jüdischen Gemeinden eigentlich nicht die Rechtsnachfolger der Vorkriegsgemeinden. Mitte Oktober hat der Würzburger Stadtrat jedoch eine Grundsatzentscheidung getroffen: Demnach sollen die Funde treuhänderisch an die israelitische Gemeinde übergeben werden. Und die hat signalisiert, dass sie die Objekte langfristig als Leihgabe im Museum für Franken lassen will. So wie den Tora-Schrank.
Die Ausstellung "Sieben Kisten mit jüdischem Material" im Jüdischen Museum München läuft noch bis zum 01. Mai 2019. Ab dem 04. Juni 2019 wird sie dann im Museum für Franken in Würzburg zu sehen sein.
Ebenfalls zu empfehlen: Anlässlich des 80. Jahrestags der Novemberpogrome zeigt das Dokumentationszentrum Topographie des Terrors in Berlin bis zum 3. März 2019 die Schau "Kristallnacht - Antijüdischer Terror 1938. Die Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem präsentiert zum 80. Jahrestag der Pogromnacht eine Online-Ausstellung.