Antiziganismus, die Justiz und die Polizei
24. Dezember 2021Ende November 2021 hat das Deutsche Institut für Menschenrechte eine Podiumsdiskussion mit dem Titel "Antiziganismus im Kontext von Polizei und Justiz" organisiert. Die Videoaufzeichnung der Diskussion ist nun auch für ein breites Publikum online auf YouTube verfügbar.
Die Direktorin des Instituts, Beate Rudolf, stellte zu Beginn der Diskussion klar, dass es nicht um Fragen von Einzelfällen oder individuellem Fehlverhalten ginge: "Es geht um institutionellen Antiziganismus. Die Wirkung ist diskriminierend, denn diese verengte Form der Wahrnehmung kann sich in Verordnungen, Gesetzen und in den informellen Abläufen der Organisationen niederschlagen."
Besonders gravierendend sei in diesem Kontext laut der Historikerin Anja Reuss der Fall von Michèle K. - einer Polizeibeamtin, die im April 2007 von der rechtsextremen Terror-Gruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU) getötet wurde. Jahrelang hatte die Polizei fälschlicherweise gegen Sinti und Roma ermittelt, die damals auf der Durchreise am Tatort "Theresienwiese" in Heilbronn halt gemacht hatten. Insgesamt richteten sich fast 60 Prozent aller Ermittlungsaktivitäten in diesem Fall gegen Sinti und Roma.
"Im Rahmen der massiven Ermittlungen wurden mehr als 3000 DNA-Proben von Rom:nja und Sinti:zze genommen und ethnische Profile angelegt. Die Fragetechniken der Beamten fokussierten sich mehr auf Verwandtschaftsbeziehungen als auf Aussagen zum Tatgeschehen", erklärt die Historikerin. Eine Aufarbeitung dieser rassistischen Ermittlungen sei jedoch niemals erfolgt.
Racial Profiling - eine tradierte Praxis
Sinti und Roma wurden bereits im Kaisserreich Ziel von Racial Profiling. Sie wurden zu einem Sicherheits- und Ordnungsproblem erklärt und unter Generalverdacht gestellt. Die Nationalsozialisten konnten an diese tradierte Praxis anknüpfen, so dass 1938 bereits über 31.000 Menschen akribisch erfasst worden waren - mit Fingerabdrücken, Lichtbildern und Genealogien.
Bemerkenswert daran sei jedoch, so Reuss, dass diese polizeiliche Praxis nicht mit dem Niedergang des Dritten Reichs endete. Die Datensammlungen wurden unter neuen Vorzeichen auch nach dem Zweiten Weltkrieg fortgesetzt. Trotz der vehementen Proteste und Forderungen der Bürgerrechtsbewegung von Sinti und Roma in der Bundesrepublik der 1980er Jahre unterhielt das Bundeskriminalamt (BKA) bis 2001 weiterhin eine Sachbearbeiterstelle zum sogenannten Tatkomplex "Reisende Täter".
Der Rechtswissenschaftler Elmedin Sopa arbeitet für "DOSTA" (Es reicht), der Dokumentationsstelle Antiziganismus des Berliner Vereins "Amaro Foro". Auch er berichtet von rassistischen Praktiken: "Wir beobachten, dass Menschen mit zugeschriebenem Roma-Hintergrund unverhältnismäßige oder unrechtmäßige Maßnahmen durch die Polizei erfahren. In einem Fall wurde ein Jugendlicher am Boden fixiert und mit dem Z*-Wort beschimpft, weil er keinen Fahrschein vorweisen konnte. In einem anderen Fall wurde ein Mann, der mit seiner 9-jährigen Tochter unterwegs war, eindringlich von der zivilen Polizei befragt, wessen Kind dies sei und wo das Kind eigentlich herkomme."
Oft fehle es Betroffenen von Antiziganismus und polizeilichen Übergriffen an finanziellen Mitteln, um sich juristisch zu wehren, so der Jurist Mehmet Daimagüler. Doch selbst wenn Betroffene den Schritt zur Anzeige wagten, würden sie oft nicht ernst genommen: "Ich habe immer wieder Klienten, die von der Polizei schlichtweg weggeschickt werden. Wir sollten aufhören, so zu tun, als hätten wir das Problem erkannt oder sogar schon gelöst. In der Realität der Betroffenen ist dies nicht der Fall. Ich fordere, dass wir dieses Thema ernst nehmen und eine Untersuchung anstoßen, die tatsächlich auch die Betroffenen miteinbezieht."
Antiziganismus - eine verengte Form der Wahrnehmung
Betroffenen den direkten Zugang zur Meldung von Hassverbrechen zu ermöglichen - das ist das Ziel der 2012 gegründeten Zentralstelle Hasskriminalität der Staatsanwaltschaft Berlin (STA). Ines Karl ist Oberstaatsanwältin und hat die Stelle mit aufgebaut. Ziel sei es, Hasskriminalität wirksam zu verfolgen und dabei auf alle Opfergruppen und Communities zuzugehen: "Was wir aus der Geschichte gelernt haben und was die Gegenwart zeigt, ist, dass diese ethnischen Zuschreibungen nicht sinnvoll sind und nicht zu einer Verbesserung unserer Arbeit führen. Wir müssen hier als Institution aktiv entgegenwirken, um unsere Aufgaben besser zu erfüllen."
Auch Eva Petersen hält eine Öffnung gegenüber den Communities für sinnvoll. Sie ist Ansprechperson für Antisemitismus und andere Phänomene gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit beim Landeskriminalamt Berlin. Es bringe sehr viel, einen Ansprechpartner für die Communities zu haben, um das Anzeigeverhalten von Betroffenen positiv zu beeinflussen: "Seit 2019 gibt es einen Antisemitismusbeauftragten bei der Polizei Berlin, und da erkannte man sehr schnell, dass es dort einen Ansprechpartner für alle Communities geben sollte", sagt Petersen.
Der Dialog mit der Zivilgesellschaft allein würde nicht ausreichen, kritisiert der wissenschaftliche Leiter im Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (ZDSR), Herbert Heuß. Es müsse auch hinterfragt werden, wie dieses althergebrachte Gedankengut weitergegeben werde. Beispiele hierfür fänden sich immer wieder auch in Fachpublikationen der Polizei. Gegen einen Artikel legte der ZDSR sogar eine Beschwerde bei den Vereinten Nationen ein, nachdem die zuständige Staatsanwaltschaft in Deutschland keine Diskriminierung zu erkennen vermochte und das entsprechende Verfahren eingestellt wurde. Die Vereinten Nationen bestätigten jedoch, was die Staatsanwaltschaft nicht wahrhaben wollte: Die Veröffentlichung sei "diffamierend, beleidigend und von diskriminierender Natur", was besonders schwer wiege angesichts der Tatsache, dass ein Polizeibeamter der Autor sei. Dies trage dazu bei, dass die Herkunft Roma eine verdachtsverstärkende Kategorie im Rahmen polizeilicher Arbeit sei.
Eine Untersuchung zu antiziganistischen Strukturen innerhalb der Polizeibehörden sei daher überfällig, meint Heuß. Darüber hinaus sei es notwendig, Themen wie Antiziganismus, Menschenrechte und Minderheitenrechte in die Ausbildung bzw. in die Lehrpläne angehender Polizeibeamten aufzunehmen: "Es wurden 12.000 neue Stellen für die Polizei bewilligt. Das sind viele Menschen, die demnächst die Polizeiausbildung durchlaufen sollen. Wenn diese jungen Beamtinnen und Beamten nicht geschult werden, dann wird Antiziganismus weiterhin Praxis bleiben und dieses Phänomen wird sich auch in der nächsten Generation der Polizei wieder festsetzen", so Heuß.
Empfehlungen an die Politik
Die vom Bundesinnenministerium beauftragte Unabhängige Kommission Antiziganismus (UKA) lieferte Mitte Juli 2021 einen 800 Seiten starken Bericht, der auf den Daten aus insgesamt zwölf Studien fußt. Er belegt wissenschaftlich die nach 1945 fortgesetzte Diskriminierung von Sinti und Roma in Deutschland. Demnach finden rund zwei Drittel aller Diskriminierungserfahrungen von Sinti und Roma im Kontext staatlicher und öffentlicher Institutionen und Behörden statt.
Der Bericht enthält Empfehlungen an die Politik. Es brauche Studien zu Praktiken von Polizei und Justiz unter Beteiligung der Betroffenen. Zudem seien die Anerkennung der Existenz von Antiziganismus in staatlichen Strukturen sowie mehr Ressourcen für Opferschutz nötig. Außerdem soll für Betroffene der Zugang zum Rechtsweg durch unabhängige Beschwerdestellen erleichtert werden, sowohl auf Bundes- als auch auf Landesebene. Zivilgesellschaftliche Organisationen fordern zudem ein Verbot von Racial Profiling und die Ausweitung des Antidiskriminierungsgesetzes (AGG) auf den öffentlichen Sektor.
Der Anwalt Daimagüler bringt es zum Abschluss der Diskussion noch einmal auf den Punkt: "Die Politik als höchste Instanz muss endlich die Verantwortung für diese notwendigen Veränderungen übernehmen. Diese Verantwortung muss über Kranzniederlegungen hinausgehen, denn die gegenwärtige Situation ist beschämend für eine Demokratie und einen Rechtsstaat."
Im Rahmen des Projekts "Rassismus, Antisemitismus, Rechtsextremismus - Stärkung von Strafverfolgung und Opferschutz" plant das Deutsche Institut für Menschenrechte eine weitere Diskussion zu diesem Themenkomplex im März 2022.