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NSU: Mord in der Mittagspause

Marcel Fürstenau16. Januar 2014

Michèle Kiesewetter war das letzte Opfer des Nationalsozialistischen Untergrunds. Die Polizistin wurde in einer Pause erschossen. Ihr überlebender Kollege schildert auf beklemmende Weise, was die Tat bei ihm auslöste.

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Michele Kiesewetter
Bild: picture alliance / dpa

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Es ist der 75. Verhandlungstag im Prozess gegen die mutmaßliche NSU-Terroristin Beate Zschäpe und vier weitere Angeklagte vor dem Münchener Oberlandesgericht (OLG). Erstmals in diesem Jahr sind die 100 Presse- und Besucherplätze komplett besetzt. Nachdem zuletzt vor allem das persönliche Umfeld der Hauptangeklagten und ihrer toten Komplizen Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos Gegenstand der Verhandlung war, geht es jetzt um den Mord an der Polizistin Michèle Kiesewetter. Die zur Tatzeit 22-Jährige wurde unter weitgehend ungeklärten Umständen am 25. April 2007 auf einem Parkplatz in Heilbronn erschossen. Ihr Kollege Martin Arnold überlebte schwer verletzt.

Für die mit dem Fall befassten Polizeibeamten, die am Donnerstag als Zeugen geladen sind, blieb der Erkenntnisgewinn höchst unbefriedigend. Jahrelang stocherten sie im Nebel und fanden keine heiße Spur. Erst die Selbstenttarnung des NSU am 4. November 2011 brachte den Durchbruch. Im Wohnmobil, in dem sich Böhnhardt und Mundlos nach einem missglückten Banküberfall das Leben genommen hatten, fand man die Dienstwaffen der beiden Polizisten. Alles deutet darauf hin, dass Michèle Kiesewetter das letzte NSU-Opfer ist. Sie ist die einzige Frau und hat keine ausländischen Wurzeln wie die neun anderen Toten.

Vier Wochen Koma, mehrere Operationen

Vor dem Oberlandesgericht schilderte ein Kriminalpolizist unter Verwendung zahlreicher Tatort-Fotos, wie sich die Tat ereignet haben muss. Demnach wurden Michèle Kiesewetter und Martin Arnold während einer Mittagspause überrascht. Die Einschussstellen an den Köpfen der beiden Opfer deuten darauf hin, dass sich die Täter von hinten näherten. Ein Radfahrer entdeckte die in ihrem Blut liegenden Polizisten. Als die alarmierten Rettungskräfte eintrafen, war Michèle Kiesewetter bereits tot. Ihr Kollege überlebte.

Wie es zu dem Mordanschlag kam, weiß Martin Arnold nicht. Er könne sich nur daran erinnern, dass sie zur Theresienwiese gefahren seien. Weil es an diesem Tag sehr warm war, stellten sie ihren Polizeiwagen auf einem schattigen Platz ab. "Dann hört es auch schon langsam auf." Arnold meint sein Erinnerungsvermögen. Alles danach habe er sich durch Medienberichte und Tatort-Bilder rekonstruiert.

Keine Zeit zum Trauern

Gut vier Wochen lag er dann im Koma, wurde mehrmals operiert. Nach dem Aufwachen war der heute 31-Jährige halbseitig gelähmt und total desorientiert. "Ich wusste nicht, was ich im Krankenhaus soll." Seine Angehörigen hätten ihm erzählt, er habe einen Unfall gehabt. Im Krankenhaus gab es keinen Spiegel, keine Zeitung, keinen Fernseher. Dann wurde er von Kollegen der Sonderkommission Parkplatz befragt und über den Tod seiner Kollegin informiert. Es folgten mehrere Rehabilitationsmaßnahmen, fünf Monate später kehrte Arnold in den Polizeidienst zurück. Er arbeitet jetzt im Büro, Streifendienste kommen für ihn nicht mehr infrage. Eine Waffe habe er nie wieder getragen.

Arnold ist schwer traumatisiert. Sein Kindheitstraum, Polizist zu werden, sei zerstört. Er schläft schlecht, im Kopf stecken noch Reste des Projektils. Die Leidensliste ist lang: Gleichgewichtsprobleme, erhöhte Epilepsie-Gefahr, Phantom-Schmerzen, viele Narben. "Mein Kopf sieht aus wie eine Landkarte." Ein Ohr ist geschädigt, demnächst werde er ein Hörgerät erhalten. In den vergangenen sieben Jahren sei so viel passiert, er sei froh, noch zu leben. Den Tod seiner Kollegin Michèle Kiesewetter, mit der Arnold am 25. April 2007 zum ersten Mal auf Streife war, hat der junge Mann noch nicht verarbeitet: "Ich habe noch nicht viel Zeit gehabt, wirklich zu trauern."

Enttäuscht über den Stand der Ermittlungen

Mit dem Ergebnis der polizeilichen Ermittlungen ist Arnold zu tiefst unzufrieden, "denn das Motiv fehlt". Er habe gehofft, dass "Kommissar Zufall" helfen werde - vergebens. Die mutmaßlichen Täter, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, sind tot. Die Hauptangeklagte im NSU-Prozess, die mit großer Wahrscheinlichkeit zur Aufklärung beitragen könnte, schweigt. Als der mit dem Leben davon gekommene Martin Arnold im Gerichtssaal A 101 des Münchener Oberlandesgerichts seine Leidensgeschichte erzählt, sitzt Zschäpe fünf Meter von ihm entfernt. Irgendwelche Regungen sind von der Presse-Tribüne aus nicht zu erkennen.