Angriff aus dem Cyberspace
7. April 2003Amerika in Angst und Schrecken: Die Jäger der US-Luftwaffe ziehen ihre Kreise über den wichtigsten Einrichtungen des Heimatlandes. Ernst dreinblickende Menschen hasten auf ihre Plätze im "war room". Das verlangt die Alarmstufenlogik der Verteidigungsapparate. Die höchste Stufe ist jetzt erreicht. Doch was sollen die Flugzeuge ausrichten? Der Angriff kam nicht aus der Luft. Er kam auch nicht von See, auch nicht über Land. Was ist passiert?
Ohne das Zutun der Redaktionen war am 10. Juli 2002 ein Drohbrief auf den beliebtesten Websites von Amerika erschienen. CNN, USA Today, Disney.com, alle haben Post von der Gruppe "People for a Free World" (PFW) auf ihren Startseiten – und keiner weiß den wirklichen Absender. PFW gibt den USA sechs Tage, ihre Armeebasen in Übersee zu schließen, andernfalls würden bedeutende Teile der amerikanischen Infrastruktur zerstört. Washington winkt ab.
Doch am 14. Juli fällt der Strom aus. Am 17. Juli stoßen zwei fehlgeleitete Flugzeuge zusammen, am 21. Juli explodiert eine computergesteuerte Chemiefabrik in Detroit. "Jetzt ist es passiert," sagt sich John Arquilla im kalifornischen Monterey, "der große Cyberkrieg hat begonnen."
Viereinhalb Jahre alt ist Arquilla's Szenario vom Krieg der Zukunft. Eine Vision von organisierten Hackerangriffen, die Amerika lahm legen, von logischen Bomben, die Rechner verwirren, von Kraftwerken, deren Steuersysteme außer Kontrolle geraten.
Alles nur eine paranoide Spinnerei?
Achillesferse des Westens
Erst am 21. Oktober 2002 waren 9 der 13 zentralen Rechner, die den www-Verkehr abwickeln, lahm gelegt. Kaum jemand hat etwas davon gemerkt. Nach einer Stunde war der Spuk vorbei. Die Rechner waren unter einer Lawine sinnloser Anfragen in die Knie gegangen. Und keiner weiß, wer es war.
"Das waren noch Amateure", sagt Klaus Brunnstein, Professor für Informatik an der Uni Hamburg im Gespräch mit DW-WORLD - vielleicht ein Vorgeschmack auf das, was noch kommen könnte.
Die überlegene Technologie der westlichen Welt ist gleichzeitig ihre Achillesferse. An den "Schnittstellen zwischen materieller und immaterieller Welt" vermutet Klaus Brunnstein die Angriffe der Zukunft. Solche Schnittstellen sind da, wo unsichere Software die Bahn von Flugabwehrraketen steuert, wo Computer die Temperatur von Atomreaktoren regeln oder die Koordinaten von Passagierflugzeugen ausrechnen.
"Elektronischer Pearl Harbour" ist das neue Reizwort in der US-amerikanischen Sicherheitsdebatte. Think Tanks erarbeiten Szenarien für den Angriff aus dem Cyberspace und wie Amerika sich verteidigen könnte.
Die unsichtbare Bedrohung zwingt die US-Militärs zum Umdenken. Ihrer konventionellen Kriegsmacht ist keine Armee gewachsen, doch die Übermacht ist trügerisch. "Mit Entsetzen" hat Klaus Brunnstein verfolgt, wie die US-Marine ihre Schiffe mit Windows NT ausgerüstet hat, um Personal zu sparen. Eine Einladung, die Hacker und Terroristen mit Handkuss annehmen könnten.
Doch so weit ist es noch nicht. Der Krieg im Cyberspace, sagt Klaus Brunnstein, werde erst toben, "wenn Menschen mit hinreichend krimineller Energie technisch versiert genug sind".
Propaganda im Netz
Derweil spielt das Internet eine immer größere Rolle in den modernen Konflikten der Welt. Zu Beginn des Geiseldramas in Moskau benutzten die Geiselnehmer die Propagandaseite kavkaz.org, um ihre Forderungen zu verbreiten. Mittlerweile ist die Seite abgeschaltet. Ein Exil-Tschetschene hatte sie aus Orlando in Florida betrieben.
Auch der Nahostkonflikt geht längst nicht mehr nur um reales Land, sondern auch um die Vorherrschaft im virtuellen Raum. So wunderte sich der Professor und Palästina-Aktivist Francis Boyle jüngst über nicht weniger als 55 000 Schmäh-Mails, die er nach 14 Tagen Urlaub in seinem Postfach fand. Israelische Hacker hatten in Boyles Namen E-Mails verschickt, in denen steht, dass es ihn nicht kümmere, "wenn Zivilisten im Westjordanland oder in Afghanistan von amerikanischen oder israelischen Soldaten getötet werden". Boyle brauchte Tage, um wütende Anrufer zu beruhigen und Entschuldigungen zu schreiben.
Schon seit zwei Jahren blockieren Israelis und Palästinenser immer wieder gegenseitig ihre Websites. Oder sie verbreiten Propaganda und Obszönitäten auf den Plattformen der Gegenseite.
Doch während die "elektronische Intifada" im Internet tobt, "sind die Militärs blind für die neue Bedrohung", schimpft Klaus Brunnstein.
In John Arquillas Szenario über den Cyberkrieg von 2002 wird der Retter, er selbst, erst im letzten Moment ins Pentagon berufen – und alles wird gut.