Als der "Ehrenmord" nach Deutschland kam
7. Februar 2018"Bereust du deine Sünden?" soll Hatuns Bruder Ayhan gefragt haben, kurz bevor er sie in der Nähe ihrer Wohnung in Berlin-Tempelhof mit drei Kopfschüssen tötete. Ihr vermeintliches Vergehen in den Augen ihrer Brüder: Die 23-jährige Hatun Sürücü wollte ein unabhängiges Leben führen und sich nicht den Regeln ihrer Familie unterwerfen. Sie lehnte die Zwangsheirat mit einem Cousin ab, trennte sich von ihm und legte das Kopftuch ab. Mit dem Mord habe er die Ehre der Familie wieder herstellen wollen, gab der damals 19-jährige Ayhan zu Protokoll. Er wurde zu einer Jugendstrafe von neun Jahren und drei Monaten Haft verurteilt. Die beiden anderen Brüder, die ursprünglich auch unter dem Verdacht der Tatbeteiligung standen, wurden mangels Beweise freigesprochen.
An diesem Mittwoch jährt sich der Mord an der jungen Mutter zum dreizehnten Mal. In ihrer Heimatstadt gibt es bald ein sichtbares Gedenken an ihr Schicksal: In Berlin-Neukölln soll eine Brücke über die Stadtautobahn A 100 künftig den Namen Hatun-Sürücü-Brücke tragen. "Dass wir Hatun Sürücu und ihr Leben ehren, ist etwas absolut Positives", sagt der Diplom-Psychologe Ahmad Mansour der DW. "Doch ich wünsche mir, dass man nicht nur die Brücke nach ihr benennt, sondern die Mädchen in den Schulen und Familien bestärkt, ihren eigenen Weg zu gehen."
Was bedeutet Ehre?
Der Mord an Sürücü entfachte eine Debatte um sogenannte Ehrenmorde in Deutschland. "Vor dem Mord an Hatun Sürücü herrschte die Vorstellung vor, dass sogenannte Ehrenmorde in Saudi-Arabien, Jordanien oder in der Türkei verübt werden, aber nicht in Deutschland. Das hat sich verändert", sagt Mansour. Seitdem gab es unzählige Talkshow-Debatten, Projekte und sogar Filme zu dem Thema.
Mansour hat das Berliner Präventionsprojekt "Heroes" mit ins Leben gerufen. Junge Männer werden geschult, um mit Hilfe von Rollenspielen mit anderen jungen Männern über Ehre und Gleichberechtigung zu sprechen. "Ehre bedeutet dann nicht mehr, die Schwester zu kontrollieren, sondern für die Freiheit der Schwester zu kämpfen", sagt Mansour. "Es geht auch um die Frage, wie man Männlichkeit auslebt - und nicht einfach das zu tun, was patriarchalische Strukturen von diesen Männern erwarten." Ehrenmord sei ein patriarchalisches Problem, kein muslimisches, sagt er. Es sei die Spitze des Eisbergs an Unterdrückung. Trotz des Erfolgs von "Heroes": "Ich wünsche mir, dass wir weg gehen von Projekten hin zu einer Wertedebatte, die vor allem die Jugendlichen in den Schulen erreicht."
Auch Männer betroffen
Wie oft seit dem Mord an Hatun Sürücü noch sogenannte Ehrenmorde begangen wurden, ist zumindest in offiziellen Statistiken nicht durchgehend erfasst. Zuletzt hatte eine Max-Planck-Studie von 2011 Fälle von 1996 bis 2005 anhand von Prozessakten und Medienberichten dokumentiert. 78 Taten wurden untersucht, die sich aber zum Teil schwer von Partnertötungen oder Blutrache unterscheiden ließen. Das Ergebnis: Mit 43 Prozent waren deutlich mehr Männer unter den Opfern, als es die öffentliche Darstellung vermuten lassen würde. Die deutliche Mehrheit der Täter (92 Prozent) war nicht in Deutschland geboren.
Die Studie zeigte auch, dass die sogenannten Ehrenmorde vor allem mit bestimmten Traditionen in Herkunftsgebieten zusammen hingen - und nicht mit einer bestimmten Religion. Unter den Tätern befanden sich neben Muslimen auch Jesiden und Christen.
Und auch mit einem weiteren Vorurteil konnte die Studie aufräumen: Die Anzahl der Ehrenmorde hätten im Laufe der Zeit nicht zugenommen, sondern sei über die Jahre konstant geblieben. Etwa dreimal pro Jahr sei eine Frau aus verletztem "Ehrgefühl" von einem Familienangehörigen getötet worden, heißt es in dem Bericht. "Ehrenmorde sind ein Phänomen, das sich auf die besonders schlecht integrierten und besonders bildungsfernen Schichten beschränkt", erklärt der Soziologe Dietrich Oberwittler, der damals die Studie geleitet hatte, der DW. "Aufgrund der Studie gehen wir davon aus, dass Ehrenmorde in Deutschland zurückgehen werden. Denn in der zweiten und dritten Einwanderergeneration werden auch die Normen, die Leute dazu bringen, solche Taten zu begehen, verblassen."
"Ehrenmord" versus "Familiendrama"
Ob statistisch erfasst oder nicht: Immer wieder bestimmen Gräueltaten an vor allem jungen Frauen die Schlagzeilen. Zuletzt sorgte der Mordprozess um Hanaa S. bundesweit für Aufsehen. Das Verbrechen an der 35-jährigen Mutter wurde in den Medien als Ehrenmord bezeichnet, vier Familienangehörige wurden schließlich wegen Mordes verurteilt. Doch oft ist es schwierig, zu sagen, ob es sich dabei um einen sogenannten "Ehrenmord" handelt, vor allem wenn der Täter der eigene Ehemann ist. Der Begriff "Ehrenmord" ist nicht nur deshalb höchst umstritten.
Der Begriff gehöre abgeschafft, fordert etwa Politologe Yasin Bas. Er würde nur für Täter mit Zuwanderungsgeschichte verwendet, während bei deutschen Tätern von "Beziehungstat" oder "Familientragödie" die Rede sei - was harmloser wirke. Wer an dem Begriff "Ehrenmord" festhalte, stärke damit den rechten Rand, befürchtet er. Auch die Initiative "stopbildsexism" fordert neue Begrifflichkeiten. Der Begriff "Familiendrama" suggeriere - im Gegensatz zum "Ehrenmord" - kein fragwürdiges Geschlechterbild. Doch das sei falsch. Gewalt gegen Frauen sei ein generelles Problem, wie auch die hohe Zahl an gezählten Gewaltdelikten zeige. Laut einer Studie des Bundeskriminalamts von 2015 wurden 131 Frauen von ihrem Partner getötet, mehr als 100.000 waren von Gewalt betroffen.