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Gesellschaft

"Es gab niemanden, der sie vertrat"

Özge Artunç
31. Mai 2017

Hatun Sürücü wurde Opfer eines Ehrenmordes in Berlin. Zwei ihrer Brüder wurden nun in Istanbul freigesprochen - auch, weil Beweise aus Deutschland gefehlt hätten, sagt die Anwältin Leyla Süren.

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Deutschland Gedenkstein für  Hatun Sürücü
Bild: picture-alliance/dpa/S. Stache

DW: Sie sind eine der Personen, die den Prozess von Hatun Sürücü, der in Berlin begann und dann in Istanbul fortgesetzt wurde, von der Türkei aus beobachten. Wie beurteilen Sie als Juristin den Freispruch?

Leyla Süren: Die Beweise in der Akte sind eine exakte Kopie der Akte, die aus Deutschland gekommen ist. Sie sind eine Kopie von allen Verhören und Gutachten, die in Deutschland gemacht wurden. Keiner der Zeugen, der sich mit dem Fall auskannte und der im Gericht in Deutschland angehört wurde, wurde in der Türkei angehört. Das türkische Gericht setzte Schreiben auf und forderte, dass diese Zeugen entweder in Deutschland angehört oder in die Türkei gebracht werden sollten. Leider blieben diese Schreiben unbeantwortet. Und das Gericht entschied, anstatt den Prozess noch weiter zu verlängern, die Deutschland-Akte zu untersuchen und daraufhin sein Urteil zu fällen.

Wie gelangte man an die für den Prozess wichtigen Personen?

Screenshot DW türkische Anwältin Leyla Süren über den Hatun Sürücü - Fall
Leyla Süren ist Anwältin der Plattform "Wir werden die Frauenmorde stoppen.Bild: DW

Um die Zeugin Melek A. zu verhören, schrieb das Gericht zweimal nach Deutschland. Auch wir wollten sehr, dass sie angehört wird. Ehrlich gesagt, ist sie eine sehr wichtige Zeugin, denn sie kannte den Mörder schon vor und nach der Tat. Es hieß aber, ihre Adresse sei nicht ausfindig zu machen. Einige der Schreiben des türkischen Gerichts blieben unbeantwortet. Diese Zeugen konnten für die türkische Akte nicht angehört werden.

Wurden Sie als Plattform "Wir werden die Morde an Frauen stoppen" mit Hindernissen konfrontiert?

Wir verfolgten den Prozess als Beobachter. Aber bei der ersten Anhörung stellten wir den Antrag, Nebenkläger zu sein. Wir wollten für Hatun Sürücü und für alle Frauen unser Recht nutzen, das wir durch den Istanbul-Vertrag bekommen haben. Aber das Gericht lehnte unseren Antrag ab. Natürlich wissen wir nicht, ob wir den Ausgang verändert hätten, wären wir Nebenkläger gewesen. Aber wir hätten zumindest die Angeklagten befragen können. Wir hätten fordern können, dass die Zeugen anwesend sind und dass ihnen Fragen gestellt werden. Das heißt, anstatt Beobachter im Gericht zu sein, hätten wir eine der beiden Seiten sein können. Aber diese Möglichkeit wurde uns nicht gewährt. Die Angeklagten machten ihre Aussagen, ebenso wie die Anwälte der Angeklagten, das Gericht kam zu Wort, aber niemand sprach im Namen der getöteten Hatun Sürücü, denn es gab niemanden, der sie vertrat.

Ist dieses Urteil des Gerichts endgültig? Oder geht der juristische Kampf im Fall Hatun Sürücü weiter?

Der Staatsanwalt hat die Möglichkeit, den Freispruch an eine höhere Instanz weiterzugeben. Da unser Antrag auf Nebenklägerschaft abgelehnt wurde, können wir das nicht machen.

Haben Sie während des Prozesses mit NGOs in Deutschland zusammengearbeitet?

Wir hatten Kontakt zu einigen von ihnen. Doch besonders großes Interesse kam von den deutschen Medien. Sie verfolgten jede Sitzung. Und wir hatten Kontakt zu unseren Kollegen.

Hatun Sürücü ist eine von hunderten Frauen, die von Seiten der Familie im Namen der Ehre umgebracht wurden. Wir bewerten Sie in Bezug auf Morde an Frauen die Türkei und das Justizsystem der Türkei?

Die Türkei ist ein Land, in dem Frauen und Männer vor dem Gesetz nicht gleich sind. Die Türkei hat sich mit dem Istanbul-Vertrag, ein Vertrag des Europarats zu Gewalt an Frauen, in vielen Punkten verpflichtet. Leider können wir nicht sagen, dass er gänzlich umgesetzt wird. Es gibt nicht genügend Frauenhäuser. Der Schutz, den Gerichte Frauen zusichern, die Anklage erstatten, wird nicht richtig gewährleistet. Daher können wir leider nichts sagen, dass es in Bezug auf Gewalt gegen Frauen in der Türkei einen effektiven Kampf gibt. Aber es wurde auch schon etwas erreicht. Die Gerichte verzichten bei Prozessen von Gewalt an Frauen auf Strafminderung wegen "guten Auftretens". Das ist ein Sieg der Frauenbewegung.

Wie können Morde an Frauen in der Türkei verhindert werden?

Die Regierung muss ihre Sprache ändern. Sie muss sich dem Mord und der Gewalt an Frauen ernsthaft widmen. Die früheren Ministerien pflegten einen aktiven Dialog mit der Frauenbewegung, aber den gibt es seit einigen Jahren nicht mehr. Aus diesem Grund müssen sich die Gesetze, die Sprache des Parlaments, die Sprache auf der Straße, die angespannte Atmosphäre der Bevölkerung und die Atmosphäre des Kampfes in eine der Aussöhnung wandeln. Wenn es innerhalb der Gesellschaft mehr Konflikte gibt, nimmt auch die Gewalt an Frauen zu.

Leyla Süren ist Anwältin der Plattform "Wir werden die Frauenmorde stoppen", die sich gegen Gewalt an Frauen in der Türkei einsetzt. Sie hat den Prozess von Anfang an verfolgt.

Das Gespräch führte Özge Artunç.