Nur Ablenkung? Streit um Seenotretter
7. Juli 2017Die Besatzung der MS Aquarius macht sich im Hafen der sizilianischen Stadt Catania für die nächste Ausfahrt bereit. Container mit Nahrungsmitteln, trockener Kleidung und Decken werden auf das Schiff geladen. Freiwillige lackieren Roststellen. Zwei weitere Helfer üben ein Rettungsmanöver auf einem Schlauchboot im Hafenbecken.
Wenig erinnert an die letzte Ausfahrt der Aquarius, die mit 1.032 aus Seenot geretteten Migranten endete. "Unser Schiff ist eigentlich nur für 500 bis 600 Menschen gebaut", sagt Rettungskoordinator Hauke Mack. Viele der Geretteten hätten dicht aneinander gedrängt an Deck geschlafen. Nur Frauen und Kinder fanden im Bauch des Schiffes Platz.
"Ausnahmefall wird Normalfall werden"
"Die Situation letzte Woche war bis jetzt ein Ausnahmefall", sagt Hauke Mack. Er verbrachte die letzten drei Wochen fast durchgehend auf hoher See - zwischen libyschen und italienischen Gewässern. Nur zweimal fuhren er und seine Besatzung zurück an Land, um gerettete Migranten den italienischen Behörden zu übergeben: "Ich glaube, dass wir in Zukunft immer mehr Flüchtlinge retten müssen. Die Ausnahmesituation von letzter Woche wird zur Normalität werden."
Die Statistik gibt Hauke Mack recht: Seit dem Ende der italienischen Seenotrettungsmission "Mare Nostrum" im Oktober 2014 steigt der Anteil der von privaten Organisationen im südlichen Mittelmeer geretteten Migranten stetig an. 2014 war es noch jeder 100., 2016 wurde schon jeder Vierte von privaten Initiativen gerettet.
Dieses Jahr wurden vierzig Prozent aller im Mittelmeer schiffbrüchigen Migranten von privaten Organisationen geborgen. Dieser Anstieg spiegelt sich auch in der Summe der Geretteten insgesamt wider: 85.000 Migranten kamen 2017 über das Mittelmeer nach Italien - zwanzig Prozent mehr als im Vergleichszeitraum 2016. Alleine in Catania kamen 13.000 Menschen an, im Heimathafen der MS Aquarius.
Neun verschiedene Nichtregierungsorganisationen betreiben private Rettungsboote im südlichen Mittelmeer. Das steigende Engagement privater Hilfsorganisationen hat in Italien eine Kontroverse ausgelöst. Der Staatsanwalt von Catania Carmelo Zuccaro warf freiwilligen Seenotrettern vor, mit libyschen Menschenschmugglern zu kooperieren. Zuccaro musste seine Untersuchungen aus Mangel an Beweisen zwar wieder einstellen, rechte Oppositionsparteien griffen die Anschuldigungen allerdings schnell auf.
Wahlkampfstimmung in Italien
Die rechte Partei "Liga Nord" brachte Zuccaros Anschuldigungen ins italienische Parlament und setzte eine Untersuchungskommission durch, die einen genauen Blick auf die Einsätze der Hilfsorganisationen werfen soll. Die rechtspopulistische "Fünf Sterne Bewegung" beschuldigte die Helfer gar, schuld am Anstieg der Zahl ankommender Migranten zu sein. Und selbst die italienische Mitte-Links Regierung fordert jetzt einen Verhaltenskodex für private Seenotretter wie Hauke Mack.
"Dieser sogenannte 'Code of Conduct' ist ein schlechter Scherz", sagt der Rettungskoordinator. "Wir handeln bereits strikt nach den Anweisungen der italienischen Behörden, wir stehen nicht in Kontakt mit Schmugglern und wir fahren nie in libysche Gewässer. Wir helfen nur dort, wo staatliche Organisationen versagen", betont Mack.
"Die privaten Organisationen sind doch nicht das Problem", sagt Elly Schlein. Die italienische Europaabgeordnete ist nach Catania gekommen, um die MS Aquarius zu besichtigen und der Besatzung ihre Unterstützung zu versichern. Eine Notwendigkeit für Verhaltensregeln sieht Schlein nicht: "Was die Hilfsorganisationen tun, ist ganz simpel - sie retten Leben."
Doch der Streit um die privaten Retter ist unlängst auch zu einem politisches Manöver geworden. Kommenden November finden in Sizilien Regionalwahlen statt. Nächstes Jahr wird in ganz Italien gewählt. Die italienische Mitte-Links Regierung laufe mit ihrem Verhaltenskodex den rechten Oppositionsparteien nach, sagt die Europaabgeordnete Elly Schlein: "Diese ganze Diskussion über die Rolle der privaten Organisationen wird doch nur geführt, um davon abzulenken, dass es keine europäische Lösung gibt und es unter den EU-Staaten an Solidarität mangelt."
Gelassenheit in der Bevölkerung
"Nein, nein, nein, das ist sicher nicht deren Schuld", winkt Tankwart Giovanni Sandrini ab. In Italien wären zwar bereits genug Migranten angekommen, das liege aber nicht an den privaten Rettungsorganisationen. "Die haben doch recht in dem, was sie tun. Wenn es die nicht gäbe, würden noch viel mehr Menschen sterben."
"Unsere Religion lehrt uns, dass wir allen Menschen helfen müssen", sagt Paola Frascato. Trotzdem wünsche sie sich, dass andere EU-Staaten Italien Migranten abnehmen würden. "Italien ist wie ein Haus, das immer mehr Menschen willkommen heißt und irgendwann platzt es. Das müssen wir verhindern." Ob an den Anschuldigungen der Hilfsorganisationen etwas dran ist, könne sie nicht sagen. Sie habe schon einiges gehört, wisse aber nicht, wem sie glauben solle.
Rettungskoordinator Hauke Mack bereitet sich derweil in seinem winzigen Büro im Bauch der MS Aquarius auf die nächste Ausfahrt vor. Hier steht schon bereit, was er brauchen wird: Einsatzplan, Laptop, Schwimmweste und ein halbes Dutzend Funkgeräte. "Eine dauerhafte Lösung sind unsere Einsätze nicht", sagt Mack. Die eigentliche Lösung hänge an Europa. Dennoch will er weitermachen und hofft, dass der Verhaltenskodex für Helfer nicht kommt. Denn dieser könnte ihn und seine Crew in ihrer wichtigsten Funktion beschneiden: Die Rettung von Menschenleben.