Ökumenischer Missbrauchs-Tag
14. Mai 2010"Nichts gesehen, nichts gehört, nichts gesagt?" lautet der Titel der beiden großen Zusatzveranstaltungen zum Thema. Mehrere tausend Menschen erlebten sehr emotionale Gespräche auf den Podien, die Reaktion des Publikums war entsprechend. Der Sprecher eines Opfervereines beschimpfte den Rektor des Canisiuskollegs, Pater Klaus Mertes, und bezeichnete dessen Auftritt als "Lügentheater".
Gesellschaftliches Erdbeben
Der Jesuit hatte im Januar dieses Jahres die Debatte um sexuellen Missbrauch an dem katholischen Elite-Gymnasium in Berlin in Gang gebracht. Zwei Patres sollen dort über Jahrzehnte hinweg Schüler sexuell missbraucht haben. Der offensive Umgang des Rektors mit dem Missbrauch von Schülern am eigenen Gymnasium brachte eine Welle ungeahnten Ausmaßes ins Rollen. Zahlreiche Opfer auch von weiteren Schulen melden sich bis heute.
Rückblickend beklagt Pater Klaus Mertes die Reaktion der Institution Kirche: Sie sei oft unangemessen gewesen. Zuerst habe die Kirche sich selbst zu schützen gesucht, dabei seien die Opfer zunächst aus dem Blick geraten oder sogar zu Tätern gemacht worden.
Mertes betonte, dass es besonders schlimm sei, wenn ein geweihter Priester missbrauche. Der Priester begehe dabei einen doppelten Missbrauch: am Kind und an seiner geistlichen Vollmacht. Durch Missbrauch werde außerdem der Glaube des Opfers an Jesus Christus beschädigt, wenn nicht sogar zerstört. "Das ist ein ungeheuerlicher Vorgang", schließt Pater Klaus Mertes.
Selbstkritik bei den Katholiken
Der Jesuit greift auch die Amtskirche scharf an. Es habe sich ein Personenkult entwickelt, der jede Kritik als eine Art Majestätsbeleidigung erscheinen lasse. Pater Mertes drängte darauf, beim Thema sexueller Missbrauch auch kirchliche Strukturen genauer zu betrachten und sie gegebenenfalls zu ändern. Zusammen mit dem katholischen Theologen und Psychotherapeuten Wunibald Müller forderte er Reformen. Dazu gehöre die Abschaffung des Zwangszölibats genauso wie die Zulassung von Frauen zum Priesteramt.
Der Theologe Wunibald Müller sieht die Kirche in ihrem Fundament erschüttert. "Eine angemessene Reaktion kann nicht in irgendeiner Art von Kosmetik bestehen, sondern muss fundamentaler Art sein", so Müller. Es gebe neben der Sünde des Einzelnen auch eine strukturelle Sünde, begründet im System der Kirche.
Der Missbrauchsbeauftragte der katholischen Kirche, Bischof Stephan Ackermann, mahnte eindringlich, die Opfer nicht aus dem Blick zu verlieren. Oder sie gar für kirchenpolitische Zwecke zu instrumentalisieren. Ihre Stimme müsse gehört werden und im Zentrum aller Diskussionen stehen.
Hilfe, wo bist du?
Grundsätzlich ist Missbrauch kein Problem der katholischen Kirche allein. Es ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Beratungsstellen bemängeln, dass es keine flächendeckenden Hilfsangebote gebe und für sofortige Therapien weder Personal noch Geld da sei. Auch die Kölner Beratungsstelle "Zartbitter" habe finanzielle Engpässe, sagt die Vorsitzende Ursula Enders. Sie berichtet, dass sich Opfer outen würden und dann kein Geld da sei, um ihnen sofort zu helfen. "Empört" sei sie außerdem, dass sich weder Spitzenpolitiker noch Bischöfe mit den Opfern unterhalten würden. Es werde immer nur nach untern delegiert. Zum Beispiel an ihre Beratungsstelle "Zartbitter".
Was tut die Politik?
Diese drastische Finanznot der Beratungsstellen war der Missbrauchsbeauftragten der Bundesregierung, Christine Bergmann, in dieser Deutlichkeit wohl nicht klar. Die ehemalige Familienministerin leitet seit April den sogenannten Runden Tisch der Regierung in Berlin, an dem gut 60 Vertreter aus Politik, Kirche und Gesellschaft teilnehmen. Bergmann verspricht "ein entsprechendes Hilfesystem". Es könne nicht ausschließlich Aufgabe von Ehrenamtlichen sein, zu helfen. Selbstverständlich müsse diese Leistung die Gesellschaft erbringen. "Es hat keinen Sinn, dass wir uns darüber unterhalten, wie schrecklich das alles ist. Und dann gehen wir nach Hause und sagen: Tut uns Leid, aber Geld ist keines da."
Auf dem Ökumenischen Kirchentag selbst gibt es psychologische und seelsorgerliche Beratung für Missbrauchsopfer. Die Botschaft von München soll eine Kultur des Hinsehens sein.
Autorin: Petra Nicklis
Redaktion: Manfred Götzke