Äthiopien: Vergewaltigungen als Kriegswaffe
24. August 2023Birhan Gebrekirstos' Stimme klingt gedämpft. Leise spricht sie über die Erfahrungen, die sie bei ihrer Arbeit mit Opfern sexueller Gewalt in der nordäthiopischen Stadt Mekele in den vergangenen drei Jahren gesammelt hat. Viele Frauen und Mädchen sind in dem zweijährigen Bürgerkrieg in Äthiopiens nördlicher Region Tigray brutal vergewaltigt worden. "Ihre Situation ist bedrückend", sagt die Sozialarbeiterin im DW-Interview.
Auch nach dem Friedensvertrag zwischen der äthiopischen Regierungsarmee und den Kämpfern der Tigray People's Liberation Front (TPLF) im November 2022 würden Vergewaltigungen als Kriegswaffe benutzt, betonen zwei in den USA ansässige Menschenrechtsorganisationen in einem jetzt veröffentlichten Bericht. Zugrunde gelegt werden Daten aus 304 zufällig ausgewählte Krankenakten aus Gesundheitseinrichtungen in Tigray, die sexuelle Gewalt an Zivilpersonen zum Thema haben. Es sei das erste Mal, dass eine Untersuchung sexuelle Gewalt im Zusammenhang von Konflikten auf Grundlage von Krankenakten dokumentiere, schreiben die Autorinnen und Autoren der NGO Ärzte für Menschenrechte (PHR) und der Organisation für Recht und Rechenschaftspflicht am Horn von Afrika (OJAH).
Frauen schwer traumatisiert
Demnach stellt die Auswahl der Fälle nur einen kleinen Teil aller tatsächlichen Fälle von sexueller Gewalt in Tigray dar, einige Gruppen wie Männer und Jungen dürften unterrepräsentiert sein. Vor allem: Von den 304 dokumentierten Fällen sexueller Gewalt hätten sich 120 nach November 2022 ereignet, als das Friedensabkommen offiziell in Kraft war.
Im Gebiet der tigrischen Provinzhauptstadt Mekele hat die Sozialarbeiterin Gebrekirstos ihre eigene Hilfsorganisation Wegahta gegründet. Viele Frauen, die im Bürgerkrieg vergewaltigt wurden, schafften es erst jetzt in eine Klinik, sagt sie: "Sie kommen in die Hauptstadt, um nach zwei, drei Jahren ein Medikament zu erhalten, und das Krankenhaus in der Hauptstadt ist nicht nur überfüllt, sondern es gibt immer noch nicht genug Medikamente, besonders für die Vergewaltigten", sagt Gebrekirstos.
Das Krankenhaus in Mekele ist beispielsweise nicht an der Studie der beiden Organisationen PHR/OJAH beteiligt gewesen. Aber Filimon Mesfin, Direktor des Generalkrankenhauses Mekele, bestätigt unabhängig davon im Wesentlichen die Schilderungen der Sozialarbeiterin. Sein Krankenhaus nehme zahlreiche Frauen auf, die vor dem Friedensvertrag Opfer von Gewalt worden seien, sagt er der DW: "Sie hatten keinen Zugang zu Gesundheitseinrichtungen - und in den letzten Monaten wurde viel unternommen, um das Bewusstsein für sexuelle Gewalt zu schärfen." Einige der Frauen hätten bereits Kinder aus Vergewaltigungen entbunden, andere seien schwanger und wünschten eine Abtreibung, einige seien HIV-positiv.
Gebrekirstos: Stigma erschwert Neuanfang
Zu den gesundheitlichen Schäden kommen sozioökonomische Faktoren: Betroffene Frauen fänden sich in einer Art familiärem und wirtschaftlichem Trauma wieder, schildert Gebrekirstos, die in im Mai 2023 erschienenen Buch "Tearing The Body, Breaking The Spirit" Erfahrungsberichte von Opfern sexueller Gewalt veröffentlicht hat. Das Stigma sexueller Gewalterfahrung habe schwere Auswirkungen: Bewusstsein und Akzeptanz in der Gemeinde seien gering, die Mutterschaft eines Kindes nach einer Vergewaltigung verstärke das Trauma, mit den dauerhaften Folgen zu leben.
Wer sind die Täter? Der Konflikt in der äthiopischen Provinz Tigray gilt mit 600.000 Todesopfern als einer der weltweit tödlichsten der jüngsten Zeit. Der Friedensschluss hat den Krieg nach zwei Jahren zwar offiziell beendet, doch laut den Autorinnen des Berichts von PHR deuten die untersuchten Daten "auf die hohe Wahrscheinlichkeit" hin, dass militärische Streitkräfte, die vermutlich mit den äthiopischen und eritreischen Regierungen verbunden sind, schwere Menschenrechtsverletzungen verursacht und Gräueltaten begangen haben - wie Folter, erniedrigende oder entwürdigende Behandlung und Vergewaltigung.
Vergewaltigung als Kriegswaffe auf allen Seiten
"Wir können es zwar nicht mit Sicherheit wissen, da wir die medizinischen Aufzeichnungen überprüft und die Opfer selbst nicht befragt haben", sagt Ranit Mishori, Mitautorin des Berichts und Professorin für Familienmedizin an der Georgetown University School of Medicine in der US-Hauptstadt Washington, D.C.
Aber in fast allen Fällen seien die Täter als Angehörige militärischer und paramilitärischer Gruppen identifiziert, einschließlich möglicher Regierungskräfte, sagt sie zur DW. Sie nennt die äthiopische und die eritreische Armee, daneben die FANO-Miliz von Angehörigen der Ethnie der Amhara. Und: "Auch tigrische Kräfte, wenn auch in geringerem Umfang." In mehr als drei Vierteln der untersuchten Fälle haben mehrere Männer eine Frau vergewaltigt, woraus die Autoren folgern, dass die Gewalt organisiert war und systematisch als Mittel der Kriegsführung eingesetzt wurde.
Rechenschaft für Vergewaltigte in Tigray
"Unsere wichtigste Erkenntnis ist, dass die sexuelle Gewalt im Rahmen dieses Konflikts andauert", betont Mishori. "Die von uns eingesehenen Krankenakten dokumentieren schwerwiegende körperliche und psychische Folgen der sexuellen Gewalt, sowohl kurz- als auch langfristig, beispielsweise Posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen und verschiedene Arten von Verletzungen und Störungen der Fortpflanzungsorgane."
Die dokumentierten Menschenrechtsverletzungen verlangen laut Mishori größere Anstrengungen von den Vereinten Nationen und der Afrikanischen Union, um die Täter zur Rechenschaft zu ziehen - in einem Umfeld, in dem die äthiopische Regierung versuche, unabhängige Untersuchungen zu verhindern.
Mitarbeit: Million Haileselassie