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Konflikte

Äthiopien ernennt neuen Premier für Tigray

13. November 2020

Im Konflikt um Tigray verschärft Äthiopien den Kurs. Das Parlament setzte den Regierungschef der Region von Tigray ab und ernannte einen neuen. Gegen 64 TPLF-Mitglieder aus Tigray ergingen Haftbefehle wegen Hochverrats.

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Viele Äthiopier sind im Stadion von Addis Abeba dem Aufruf zum Blutspenden für verletzte Soldaten gefolgtBild: Mulugeta Ayene/AP Photo/picture alliance

In Addis Abeba hat das Parlament hat einen neuen Regierungschef für die abtrünnige Region Tigray ernannt. Der bisherige Staatsminister für Wissenschaft und Bildung, Mulu Nega Kahsay, soll eine neue Regionalregierung zusammenstellen. Am Donnerstag hatten die Abgeordneten den bisherigen Präsidenten von Tigray, Debretsion Gebremichael, abgesetzt. Gebremichael war im September gewählt worden und ist Chef der Volksbefreiungsfront von Tigray (TPLF). Zudem stellte die Staatsanwaltschaft Haftbefehle gegen 64 Mitglieder der TPLF wegen Hochverrats aus, wie der regierungsnahe Privatsender Fana BC berichtete. Die Zentralregierung begann mit dem angekündigten Austausch der Regionalregierung.

Die Regierung in Addis Abeba hatte die Wahl Gebremichaels nicht anerkannt, was schließlich Anfang November zum militärischen Konflikt führte. Die Regierungstruppen setzten derweil ihre Offensive in der Region fort. Am Donnerstag hatte Ministerpräsident Abiy Ahmed verkündet, seine Armee habe bereits den Westen des Bundesstaates Tigray unter ihre Kontrolle gebracht. Die Regionalregierung von Tigray hatte am Mittwoch die Mobilisierung der Bevölkerung angeordnet und den Ausnahmezustand verhängt. Der Sender Tigray TV berichtete, Ziel sei es, sich gegen eine Invasion zu verteidigen.

Äthiopien l PK - Dr. Debretsion Gebremichael
Die Regierung Äthiopiens hat ihn für abgesetzt erklärt: Debretsion GebremichaelBild: DW/M. Haileselassie

Berichte über Massaker

Im Konflikt um Tigray sollen nach Angaben von Amnesty International zahlreiche Zivilisten beim Überfall auf eine Stadt getötet worden sein. Die Menschenrechtsorganisation teilte am Donnerstag unter Berufung auf von ihr geprüfte Augenzeugenberichte, Fotos und Videos mit, dass "Dutzende" und "wahrscheinlich Hunderte" Menschen im Südwesten von Tigray einem "Massaker" zum Opfer gefallen seien. Die Leichen trügen klaffende Wunden, die offenbar von scharfen Waffen wie Messern und Macheten stammten, erklärte Amnesty.

Der Äthiopien-Experte von Amnesty, Fisseha Tekle, sagte der Deutschen Welle (DW), die Organisation habe die Berichte verifizieren können - durch Aussagen von Zeugen, die bei der Bergung von Leichen anwesend waren, und auf Basis von Bildaufnahmen, die im Internet kursieren. Dazu habe man einen unabhängigen Pathologen zu Rate gezogen. "Alle Seiten in diesem Konflikt müssen ihre Kämpfer instruieren, dass Zivilisten, die nicht involviert sind, geschützt werden müssen", erklärte Fisseha weiter. "Diese Art von Massaker, wie wir sie jetzt gesehen haben, stellen Kriegsverbrechen dar und sollten drakonisch bestraft werden."

Der Journalist Samuel Getachew aus Addis Abeba sagte der DW, er glaube aufgrund der Berichte von Menschen, die in den Sudan geflohen sind, dass es noch mehr Tötungsfälle gebe.

Augenzeugen erklärten inzwischen, der Überfall sei von Verbänden verübt worden, die mit der TPLF verbündet sind. Weil die Region weitgehend von der Außenwelt abgeschnitten ist, gibt es aber keine Bestätigung der Ereignisse in der Krisenregion von unabhängiger Seite. 

TPLF weist Vorwürfe zurück

Der stellvertretende Pressesprecher der TPLF, Hadush Kassu, sagte im Gespräch mit einem DW-Korrespondenten in Mekelle, der Hauptstadt von Tigray, die Regionalregierung verabscheue ethnisch motivierte Übergriffe gegen sie selbst. Daher könne niemand erwarten, dass ihre Spezialeinheiten und verbündete Milizen solche Verbrechen an ihren Brüdern in der Region Amhara begingen. Kassu sprach sich zudem für eine unabhängige Untersuchung aus. Die Regionalregierung sei offen für Ermittlungen durch die internationale Staatengemeinschaft.

Äthiopien Mekelle | Provinzhauptstadt | Region Tigray
In der ansonsten belebten Provinzhauptstadt Mekelle blieb es an diesem Freitag ungewöhnlich ruhigBild: Million Haileselassie/DW

Bei einer Befragung von Bürgern in Mekelle, sprachen sich mehrere Einwohner für ein Ende der Kämpfe und eine Verhandlungslösung aus. Ein junger Mann sagte der Deutschen Welle: "Das Volk von Tigray will keinen Krieg. Ich glaube, einen Krieg zu beginnen, ist ein Verlust. Es gibt es Luftangriffe, in einigen Gebieten gibt es Kämpfe. Das alles ist nicht notwendig." Eine Frau sagte der DW in Mekelle, es gebe dort keine Feindseligkeiten zwischen den Einwohnern. "Frieden kann eine Lösung bringen, Krieg ist zerstörerisch und wertlos."

Die EU-Kommission warnte vor einer Katastrophe in humanitärer Hinsicht. "Die militärische Eskalation in Äthiopien bedroht die Stabilität des ganzen Landes und der Region", sagte der EU-Kommissar für Krisenmanagement, Janez Lenarčič, dem "Redaktionsnetzwerk Deutschland". Das Risiko, dass die Gewalt sich ausbreite, sei sehr real. Lenarčič forderte die äthiopische Regierung auf, den Hilfsorganisationen schnell und bedingungslos Zugang zur Region Tigray zu gewähren.

UN verlangen Zugang für humanitäre Hilfe

Auch die Vereinten Nationen appellierten an die Regierung in Addis Abeba, einen "sofortigen und ungehinderten" Zugang für humanitäre Hilfe in Tigray zu ermöglichen. Darüber führe die UN-Beauftragte in dem ostafrikanischen Land, Catherine Sozi, Gespräche mit der Regierung, teilte UN-Sprecher Stephane Dujarric in New York mit. Der CDU-Bundestagsabgeordnete Matern von Marschall, der für die Union im Ausschuss für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung sitzt, schloss sich dieser Forderung an. In der Region Tigray benötigten Millionen Menschen dringend Hilfe - nicht allein wegen der Corona-Pandemie, sondern auch wegen einer Heuschreckenplage, sagte von Marschall im DW-Interview.

Die US-Regierung verlangte eine sofortige Deeskalation. "Wir verurteilen das Massaker an Zivilsiten in Mai-Kadra", erklärte der Staatssekretär im Außenministerium Tibor Nagy. Der Afrika-Beauftragte von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Günter Nooke, sagte der DW: "Was wir jetzt brauchen, ist eine schnelle und friedliche Lösung. Allerdings fürchte ich, dass dies vielleicht Wunschdenken ist."

Die Äthiopien-Expertin der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, Annette Weber, warnte: "Wenn sich der Konflikt regional ausweitet, würde das zu großen Migrationsschüben auch nach Europa führen." Es könne zudem sein, dass das Nachbarland Sudan wieder destabilisiert werde. "Alle Beobachter in der Region sind sehr nervös", sagte Weber. Nach UN-Schätzung sind mehr als zwei Millionen Menschen in Tigray auf humanitäre Hilfe angewiesen. Zudem sind bereits mehr als 11.000 Menschen in den benachbarten Sudan geflohen.

Ethnische Konflikte verschärft

Auslöser der militärischen Konfrontation war ein mutmaßlicher Angriff der TPLF auf eine Militärbasis Anfang November. Der Angriff verschärfte die seit Monaten bestehenden Spannungen zwischen Addis Abeba und Tigray. Die Regionalregierung hatte im September Wahlen abgehalten, obwohl das Parlament in Addis Abeba wegen der Corona-Pandemie alle Amtszeiten verlängert und sämtliche Wahlen verschoben hatte.

Hintergrund sind ethnischen Spannungen zwischen den Tigrayern und der Zentralregierung von Ministerpräsident Abiy Ahmed, der der Bevölkerungsmehrheit der Oromo angehört. Die TPLF war die dominante Partei in der Parteienkoalition, die Äthiopien mehr als 25 Jahre lang mit harter Hand regierte. Doch als Abiy Ahmed 2018 an die Macht kam, entfernte er im Zuge von Reformen viele Funktionäre der alten Garde und gründete eine neue Partei ohne die TPLF. Die TPLF und viele Menschen in Tigray fühlen sich von der Zentralregierung nicht vertreten und wünschen sich größere Autonomie. Unter Abiy - der 2019 für seine Bemühungen um eine Aussöhnung mit dem benachbarten Eritrea den Friedensnobelpreis erhielt - haben die ethnischen Konflikte in dem Vielvölkerstaat Äthiopien mit seinen rund 112 Millionen Einwohnern zugenommen.

kle/mak (rtr, afp, dpa, epd)