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Äthiopien am Scheideweg

Reinhold Meyer16. August 2005

Die äthiopische Opposition hat die Bildung einer Allparteienregierung und baldige Neuwahlen gefordert. Sollte Ministerpräsident Meles Zenawi dem nicht zustimmen, könnten Gewalt und Chaos folgen.

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Alltag in Addis Abeba: 40 Prozent Arbeitslosigkeit und viele ObdachloseBild: AP
Ethiopia's Prime Minister Meles Zenawi
Äthiopiens Premierminister Meles Zenawi (2. v. l.) bei der Stimmabgabe zur Parlamentswahl am 15. Mai 2005 mit Wahlbeobachtern der Europäischen Union (Foto: Archiv)Bild: AP

Was am 15. Mai 2005 ein demokratisches Signal nach innen und außen sein sollte, wird am 21. August mit den letzten Nachwahlen als Fanal für weitere innenpolitische Auseinandersetzungen enden. Dann müssen in 32 Wahlbezirken die Wahlen aufgrund von Unregelmäßigkeiten und logistischer Pannen wiederholt werden. Ebenfalls an diesem Tag werden die Wahlen in 23 Wahlkreisen der ostäthiopischen Somali-Region stattfinden. An der absoluten Mehrheit der Regierungskoalition wird dies nichts ändern, so dass Premierminister Meles Zenawi weitere fünf Jahre regieren kann. Die Opposition spricht von dem Verlust jeglichen Vertrauens gegenüber den Siegern und fordert die Bildung einer Allparteienregierung und Neuwahlen.

Der heftig umstrittene Hindernislauf zum endgültigen Endergebnis der Parlamentswahlen hat deutlich gemacht, dass die gesellschaftlichen Verkrustungen während der 14-jährigen autokratischen Regierungszeit unter Premierminister Meles Zenawi sich zwar nur schwer aufbrechen lassen, dennoch aber tief greifende Veränderungen stattgefunden haben.

Verkalkuliert

Die politische Führung und die Regierungspartei (Revolutionäre Demokratische Front des Äthiopischen Volkes / EPRDF) in Äthiopien hatten an eine politische Übung geglaubt, von deren Ausgang sie sich so sicher waren, dass sie ihren absoluten Sieg schon bald nach Schließung der Wahllokale verkündeten. Bis dahin hatte die EPRDF mit ihren politischen Verbündeten das Parlament zu 98 Prozent kontrolliert und es zu einem bloßen Arm der Exekutive verkümmern lassen.

Unruhen in Äthiopien
Äthiopische Studenten protestierten in der Nähe von Addis Abeba am 7. Juni 2005 gegen die Regierung. Die Polizei schlug den Protest nieder. (Foto: Archiv)Bild: AP

Als die Regierenden erkennen mussten, dass ihre Arroganz sie zu für die Weiterführung ihrer Herrschaft gefährlichen Trugschlüssen verleitet hatte, reagierten sie zunächst mit dem üblichen Gewaltreflex. 36 getötete Demonstranten, Massenverhaftungen und Berufsverbote gegen unabhängige Journalisten bildeten die ernüchternde Bilanz einer sich demokratisch darstellenden Regierung. Die Afrikanische Union und die internationale Gemeinschaft beschränkten sich auf Appelle, denn die strategische Bedeutung Äthiopiens ließ ihren demokratischen Eifer erlahmen.

Neue Situation

Die Taktik, vollendete Tatsachen zu schaffen und früh einen überwältigenden Sieg der Regierungskoalition zu verkünden, scheiterte angesichts der augenscheinlichen Situation. Wie schon im Vorfeld der Parlamentswahlen zeigte sich, dass sich die politische Realität in Äthiopien geändert hat. Mit den Parteienbündnissen CUD (Koalition für Einheit und Demokratie) und ZEDF (Vereinigte Äthiopische Demokratische Kräfte) traten zum ersten Mal konfliktfähige Oppositionsparteien an. Friedlicher Massenprotest hat dazu beigetragen, dass ein politischer Wandel eingeleitet werden konnte. Und schließlich sind neue Transparenz- und Öffentlichkeitsräume entstanden, die den bis dahin Schweigenden vor allem in den ländlichen Gebieten die Möglichkeit zur freien Meinungsäußerung gaben.

Bauer bei der Arbeit in Äthiopien
Ein Bauer bei der Arbeit in der Nähe der Hauptstadt Addis Abeba. 85 Prozent der Menschen des Landes arbeiten in der Landwirtschaft.Bild: AP

In einem Land, in dem 85 Prozent der etwa 70 Millionen Einwohner sich von der Landwirtschaft ernähren, hat die Regierung vor allem hier politischen Kredit verspielt. Die Produktivität konnte nicht erhöht werden, die Steuerlast erstickt jegliche Initiative, die Belastung durch obligatorische Gemeinschaftsarbeit und so genannte freiwillige Abgaben für die Entwicklung ist unerträglich geworden, die Kleinbauern haben keine Besitzrechte an dem von ihnen bestellten Land. Zugleich ist die deklarierte revolutionäre Demokratie zu einem System degeneriert, in dem die Partei, der Staat sowie deren Vertreter befehlen und die Bauern exekutieren. Die Ursachen für das Versagen nicht nur bei der Erreichung der festgesetzten Ziele, sondern auch bei der Erreichung gleichberechtigt beteiligter Dorfgemeinden sind in der Struktur der Wirtschaft und darüber hinaus bei den Wertvorstellungen der regierenden Eliten zu suchen.

Zukunft ungewiss

Die politische Landschaft in Äthiopien hat sich grundlegend geändert. Die CUD hat mit einem Schlag sämtliche 23 Wahlkreise in der Hauptstadt erobert, und die Opposition konnte mit bisher 174 Sitzen im Vergleich zu den 20 Sitzen im alten Parlament ihr politisches Gewicht enorm steigern. Der weitere demokratische Prozess wird nun davon abhängen, ob die bisher Herrschenden zu echten Reformen und Zugeständnissen bereit sind, und ob die Opposition in ihrem Bemühen geeint bleibt, diese der Regierung auf demokratischem Weg abzuringen. Ansonsten drohen Unruhen, ethnische Instrumentalisierung und Instabilität. Vorhandener demokratischer Wille läuft Gefahr, durch politische Gruppen auf beiden Seiten unterminiert zu werden, die sich zu sehr an ihre Privilegien gewöhnt haben, um die Regeln des Parteien- und Meinungspluralismus zu akzeptieren. Äthiopien steht am Scheideweg, die Zukunft ist völlig ungewiss.