Kritik an deutscher Abschiebepraxis
22. September 2016Besonders Nordrhein-Westfalen zeigt sich unter der rot-grünen Landesregierung rigide. So hat sich nach Informationen der Asylbeobachtungsstelle der Diakonie- Rheinland-Westfalen-Lippe am Düsseldorfer Flughafen in den vergangenen vier Jahren die Zahl der ausgeflogenen Asylbewerber von 1200 auf rund 3600 verdreifacht. Immer häufiger dabei: erkrankte Migranten. Die meisten stammen vom Balkan und aus der Türkei.
Viele der Betroffenen leiden unter Krankheiten wie Diabetes, Bluthochdruck, Krebs, HIV oder schweren psychischen Leiden. "Seit Einführung des Asylpakets II im Frühjahr dieses Jahres werden nur noch Personen ausgenommen, die schwerwiegend erkrankt sind und bei denen die Rückführung die Krankheit verschlechtern würde", sagt Dalia Höhne, eine von nur drei Abschiebungsbeobachterinnen in Deutschland.
"Anspruch auf angemessene Begutachtung der Erkrankung"
Kritik kommt zu diesem Thema auch von der Bundes-Psychotherapeuten-Kammer (BPtK) aus Berlin, die das Asylpaket II der Bundesregierung ablehnt. "Wir fordern, dass schwerwiegende oder lebensbedrohliche psychische Erkrankungen grundsätzlich als Erkrankungen gelten, die eine Abschiebung nicht möglich machen. Flüchtlinge, die unter psychischen Beschwerden leiden, haben einen Anspruch auf eine angemessene Begutachtung ihrer Erkrankungen.
Dies darf nicht daran scheitern, dass die Begutachtung einer Erkrankung für die Behörden eine große Herausforderung darstellt, wie der Gesetzentwurf beklagt", so BPtK-Präsident Dietrich Munz in einer Stellungnahme. Vor allem der Passus, dass sich die Krankheit bei Abschiebung verschlechtern müsse, um der Abschiebung zu entgehen, ist Munz ein Dorn im Auge.
"Dies kann sowohl bei Depressionen als auch bei posttraumatischen Erkrankungen der Fall sein. Eine Selbstgefährdung ist bei beiden psychischen Erkrankungen sogar häufig. 40 Prozent der Patienten mit PTBS hatten bereits Pläne, sich das Leben zu nehmen oder haben sogar schon versucht, sich umzubringen. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass sich eine PTBS verschlechtert, wenn der Erkrankte wieder an den Ort zurückgeschickt wird, der mit seinen traumatischen Erlebnissen verbunden ist", sagt der BPtK-Präsident.
Aber nicht immer werden die Abschiebungen vollzogen. So sind nach Informationen des Bundesinnenministeriums von Januar 2015 bis Ende Juni 2016 mehr als 600 Abschiebungen abgebrochen worden. Oftmals weigern sich die Piloten, Flüchtlinge mitzunehmen, die sich wehren. Andere seien nicht ausgeflogen worden, da sie akut erkrankt seien.
Harte Töne der Innenpolitiker
Das ruft nun die Polizei und Innenpolitiker auf den Plan, die hier eine Praxis von Rechtsanwälten und Ärzten vermuten, verfügte Abschiebungen zu verhindern. So wollen der Vorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft, Rainer Wendt, und der CSU-Politiker Hans-Peter Friedrich kompromissloser bei Abschiebungen vorgehen.
Es gebe eine "Abschiebungsverhinderungsindustrie", sagte Wendt der "Bild"-Zeitung. Friedrich, ehemaliger Bundesinnenminister und stellvertretender Vorsitzender der Unionsfraktion im Bundestag forderte: "Wer zulässt, dass abgelehnte Asylbewerber dem Staat derart auf der Nase herumtanzen, zerstört das Vertrauen der Bürger in die Handlungsfähigkeit des Staates. Daher müssten die Rechtsvorschriften dringend geändert werden."
Wendts Äußerung über eine "Abschiebungsverhinderungs-Industrie" wurde von Pro- Asyl-Geschäftsführer Günter Burkhardt als Stimmungsmache zurückgewiesen. Deutschland sei ein Rechtsstaat: Gerichte korrigieren Fehlentscheidungen von Behörden. Das müsse Herr Wendt zur Kenntnis nehmen. Aber auch Innenminister Thomas de Maizière hatte bereits angedeutet, dass er von Gefälligkeitsgutachten von Medizinern ausgehe.
Unsicherheit in der Ärzteschaft
Das sorgte für Unmut bei Medizinern. Experten wie Dalia Höhne erkennen hier das Spannungsfeld, in dem sich Ärzte befinden: "Ich bekomme mit, dass unter den Ärzten eine große Unsicherheit in Bezug auf die sogenannten Flugtauglichkeitsbescheinigungen besteht. Vor der neuen Asylgesetzgebung reichte ein medizinisches oder auch psychologisches Gutachten aus, das zum Beispiel den Schweregrad und die Folgen einer chronischen Erkrankung aufzeigte und dann dazu führen konnte, dass ein Asylbewerber erst mal nicht abgeschoben wurde."
Die Beobachterin stellt fest: "Jetzt werden nur noch Atteste akzeptiert, die in der Regel höchstens 14 Tage alt und nach strengen Formvorgaben ausgefüllt sind. Es ist fraglich, inwiefern Ärzte innerhalb kürzester Zeit und meistens ohne Unterstützung durch Dolmetscher akute Erkrankungen, die einer Abschiebung entgegen stehen könnten, umfassend diagnostizieren oder ausschließen können sollen."
Und es gelten weitere Einschränkungen weiß Höhne. "Gutachten von psychologischen Therapeuten werden gar nicht mehr akzeptiert. Das geht soweit, dass abgelehnte Asylbewerber sogar aus psychiatrischen Kliniken abgeschoben werden, die eigentlich ein Schutzraum für die betroffenen Menschen sein sollten. Das hat mir das Psychosoziale Zentrum in Düsseldorf berichtet, das schon viele Jahre traumatisierte Flüchtlinge behandelt", so Höhne.
Bundesweite Standards
Bei diesen Missständen fordert Höhne massive Änderungen im Umgang mit den Flüchtlingen, die von der Abschiebung bedroht sind. "Die Auslegung und Umsetzung der asylrechtlichen Neuregelungen muss dringend verändert werden. Wir brauchen bundesweite Standards für die Abschiebungen abgelehnter kranker Asylbewerber."
Durch die Verschärfungspraxis bei den Abschiebungen droht für die kommenden Jahre ein Anstieg bei der Rückführung von Flüchtlingen. Dies legen zumindest die Zahlen nahe. So lebten in Deutschland zum 30. Juni 2016 fast 550.000 abgelehnte Asylbewerber. Viele haben ein unbefristetes Aufenthaltsrecht, da sie sich eingelebt und keine Bindung mehr zum Heimatland haben. 215.000 Flüchtlingen jedoch droht die Abschiebung. Und das bedeutet weitere Arbeit für die Abschiebungsbeobachterinnen.