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Zwischen Vision und Wirklichkeit

Andreas Noll1. Mai 2014

Ein Ende der Sparpolitik in Europa zählt für die Gewerkschaften zu den wichtigsten Botschaften zum 1. Mai. Doch in Brüssel ist von einer europäischen Kampfansage an die Politik der EU wenig zu spüren. Eine Spurensuche.

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Besucher der Place Rouppe in Brüssel, wo die Gewerkschaften den 1. Mai feiern (Foto: Noll/DW)
Bild: Andreas Noll

Es geht ausgelassen zu auf der Place Rouppe im Herzen von Brüssel. Die Feiern des belgischen Gewerkschaftsbundes zum 1. Mai erinnern mehr an ein Familienfest als eine Machtdemonstration der Gewerkschaften. Politische Botschaften haben die Gewerkschafter trotzdem mitgebracht: "Es geht jetzt darum, mit der Hilfe Europas die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen", sagt Rene van Cauwenberge. "Die Leute haben genug gespart. Das heißt ja nicht, dass wir das Geld zum Fenster rauswerfen wollen, aber diese Austeritätspolitik in Europa muss beendet werden", fordert Cauwenberge, der für die Region Brüssel in den Führungsgremien der sozialistisch orientierten belgischen Gewerkschaft FGTB sitzt.

Er ist ein leidenschaftlicher Anhänger der europäischen Integration, nennt Europa "ein sehr kostbares Gut", aber die europäische Solidarität lässt an diesem 1. Mai in Brüssel zu wünschen übrig. Auf der Gewerkschaftsfeier in der EU-Hauptstadt lassen sich vor allem Belgier blicken. Der in Brüssel residierende Europäische Gewerkschaftsbund (ETUC), der die Interessen von rund 60 Millionen Gewerkschaftern in Europa vertritt, ist nicht einmal mit einem eigenen Stand vertreten. ETUC-Generalsekretärin Bernadette Ségol ist am Tag der Arbeit lieber in ihrer Heimat Frankreich: "Wir können am 1. Mai nicht in Brüssel kämpfen, weil unsere Mitglieder in den Nationalstaaten gebraucht werden. Aber natürlich sind wir sicher, dass unsere Botschaft am 1. Mai gehört werden wird."

Porträt des FGTB-Funktionärs aus Brüssel, Rene van Cauwenberge (Foto: Noll/DW)
FGTB-Funktionär van Cauwenberge: "Wir sagen den Politikern nicht, was sie tun sollen"Bild: Andreas Noll

Mühsames Ringen um gemeinsame Positionen

Und doch widerspricht sie heftig bei der Frage, ob Europa in Gewerkschaftsfragen noch zu nationalstaatlich funktioniere. Im Gegenteil, so Ségol, und verweist auf eine Großdemo, die der Verband Anfang April im Brüsseler EU-Viertel organisiert hatte. Mehrere zehntausend Gewerkschafter - vor allem aus Deutschland, Frankreich und Polen - waren der Aufforderung gefolgt. "Das war eine richtige europäische Demonstration für einen politischen Kurswechsel", übersetzt sie die politische Botschaft dieses 4. Aprils.

Proträt der ETUC-Generalsekretärin Bernadette Ségol (Foto: Noll/DW)
ETUC-Generalsekretärin Ségol: "Wir sind sicher, dass unsere Botschaft gehört wird"Bild: Andreas Noll

Drei Wochen vor den Europawahlen ist der ETUC weiterhin unzufrieden mit der Krisenpolitik der EU. "Wir denken, dass es höchste Zeit ist, eine Investitionspolitik in Europa ins Werk zu setzen, die diesen Namen verdient. Um wieder Wachstum und Arbeitsplötze zu schaffen", fordert die Spitzengewerkschafterin. Europa habe mit einer Billion Euro die Banken gerettet, jetzt müsse die Europäische Union endlich Arbeitsplätze schaffen.

Dass bei 26 Millionen Arbeitslosen in Europa die EU gefordert ist, steht für Ségol außer Frage. Rund 250 Milliarden Euro Investitionen für hochwertige Jobs fordert der Gewerkschaftsbund - zwei Prozent des europäischen Bruttoinlandsproduktes für den Zeitraum der kommenden zehn Jahre. Damit soll eine "Reindustrialisierung Europas" in Gang gebracht werden - vor allem in den Bereichen nachhaltige Energie, Verkehr und Wirtschaft. Der designierte Chef des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), Reiner Hoffmann, der in Brüssel viele Jahre als stellvertretender Generalsekretär des ETUC gearbeitet hat, bringt auch eine europäische Arbeitslosenversicherung ins Spiel.

Eine politische Vision - kein detailliertes Programm

Einige Forderungen der Gewerkschaften stoßen im Europawahlkampf auf Zustimmung. Die Spitzenkandidaten der vier großen politischen Strömungen in Europa sprechen sich mittlerweile alle für ein "Ende der Sparpolitik" aus - wenn auch in unterschiedlicher Deutlichkeit. Dabei bleibt allerdings offen, wie genau dieses Ende aussehen könnte. Weder ist klar, woher die zum Teil hoch verschuldeten Mitgliedsstaaten das Geld für Investitionsprogramme nehmen sollen, noch gibt es eine Liste von Infrastrukturprojekten, auf die sich die EU-Länder einigen könnten.

Besucher der Place Rouppe in Brüssel, wo die Gewerkschaften den 1. Mai feiern (Foto: Noll/DW)
Gewerkschaftsfeier zum 1. Mai in Brüssel: Familienfest statt KampfansageBild: Andreas Noll

Guntram Wolff, Leiter des Brüsseler Thinktanks Bruegel, denkt vor allem an Investitionen im europäischen Energiesektor. Aber auch hier ist der Weg noch weit, denn bislang können sich die EU-Mitgliedsstaaten noch nicht einmal darauf einigen, wie die Energieversorgung der Zukunft aussehen könnte. Der Ausstieg Deutschlands aus der Atomenergie und der Bau eines neuen AKW in Frankreich sind dafür ein Beispiel.

Rene van Cauwenberge will sich am Stand seiner Gewerkschaft auf eine Detaildiskussion gar nicht erst einlassen. "Das ist nicht unsere Aufgabe, den Politikern zu sagen, was sie tun sollen. Ich stimme für eine gewisse politische Vision, und daher rufe ich unsere Mitglieder auf, bei den Wahlen für eine linke Partei, für eine humanistische Partei, zu stimmen." Viel Einfluss auf die Krisenpolitik in Europa, das muss er aber bestätigen, hätten die Gewerkschafter bislang allerdings nicht gehabt. "Wir haben die Schäden begrenzt, aber Fortschritte haben wir nicht erreicht."

Könnte ein schlagkräftiger Europäischer Gewerkschaftsbund am Ende vielleicht mehr erreichen? Van Cauwenberge ist Realist. Einen deutschen und belgischen oder französischen Gewerkschafter würden auch mehr als 50 Jahre nach Beginn der europäischen Einigung noch Welten trennen: "Die ETUC versucht zumindest, die Gewerkschafter hinter einige gemeinsame Positionen zu versammeln." Reicht das schon, um zu einer kämpferischen Gewerkschaft zu werden? "Für den Moment nicht, aber wir arbeiten dran."