Interreligiöse Stadtführung
19. Dezember 2012Für ihre Tour durch Neukölln haben sich Farah und Melike ausgerechnet einen besonders kalten Wintertag ausgesucht. Der Wind pfeift eisig durch den Schillerkiez im Berliner Stadtteil Neukölln. Die Ankündigung, die Stadtführung über zehn Stationen werde zwei Stunden dauern, quittiert die Besuchergruppe mit leisem Stöhnen. Die 20-jährige Farah und die 17-jährige Melike sind nur wenig älter als ihre Zuhörer. Doch sie sind es, die den Ton angeben. "Ihr seid ja keine kleinen Kinder mehr", spricht Farah die Schülergruppe des Berliner Albert-Schweitzer-Gymnasiums an, "aber wir müssen trotzdem immer wieder darauf hinweisen: Bitte geht nur bei Grün über die Ampel. Und lasst eine Gasse für Passanten frei, wenn wir auf dem Gehweg stehen!"
Eine Führung hilft, Vorurteile abzubauen
Zunächst bitten Farah und Melike ihre Gruppe in die Eingangshalle des Neuköllner Rathauses, wo sie ihre Zuhörer auf ein Wappen aufmerksam machen. "Welche Symbole erkennt ihr darin?" fragt Farah. Dass auch ein Abendmahlskelch auf dem Wappen abgebildet ist, erklärt Farah anschließend und liefert gleich die entsprechenden Statistiken: Wie viele Christen leben in Neukölln? Welche anderen Religionen sind vertreten?
Religion zieht sich wie ein roter Faden durch diese ungewöhnliche Stadtführung. Farah und Melike sind Musliminnen und tragen ihr Kopftuch selbstbewusst. Ihre Zuhörer sind manchmal auch muslimisch, oft aber christlich geprägt. Interreligiöse Begegnungen sind Alltag für die jungen Stadtführerinnen. Ihre Tour durch Neukölln zeigt, welche Spuren Judentum, Christentum und Islam im Schillerkiez hinterlassen haben und wie sich das religiöse Leben seiner Bewohner in den vergangenen 100 Jahren verändert hat. Religionen in Bewegung eben. Genau das ist auch der Titel, den die Initiative "Wir sind Berlin" der Tour gegeben hat. Das gemeinnützige Unternehmen bildet Jugendliche zu Tourguides aus und will so das Verständnis der Jungen und Mädchen für ihre Stadt fördern. Die interreligiöse Führung soll Menschen zusammenbringen und Vorurteile abbauen, wünscht sich die Leiterin von "Wir sind Berlin", Bettina Bluhm: "Es ist ein gegenseitiges Lernen, für die Besucher und für die Stadtführer. Denn während einer Tour treffen Menschen aufeinander, die aus verschiedenen Städten oder zumindest Vierteln kommen oder unterschiedlichen Religionen angehören - und die sich sonst vielleicht nie treffen würden."
Begegnungen, die das Denken verändern
Farah und Melike stehen mit den bibbernden Schülerinnen und Schülern mittlerweile in der Isarstraße 8. Dort erinnert eine Gedenktafel an der Hauswand daran, dass früher im Hinterhaus eine Synagoge war. Farah und Melike zitieren aus den Erinnerungen von Norbert Bikales, einem in Neukölln geborenen Juden. Sie erzählen, dass er die Synagoge besuchte, von seiner Flucht vor den Nazis, der Ermordung seiner Eltern und der Zerstörung der Synagoge.
Das Leben von Norbert Bikales hat auch Farah beeindruckt: "Seit ich Stadtführerin bin, habe ich einige meiner Ansichten überdacht. Mein Bild von Juden war geprägt durch arabische Medien. Dabei ging es meist um den Nahost-Konflikt." Bei der Vorbereitung der Stadtführung hat Farah zum ersten Mal in ihrem Leben einen Juden getroffen. Der Mann aus Israel hat die Tour mitentwickelt. "Da habe ich gemerkt, dass man auch gut zusammenarbeiten kann, selbst wenn man einen unterschiedlichen Glauben hat."
Auch für Toleranz gegenüber der eigenen Religion werben die jungen Stadtführerinnen. Zu jeder Tour gehört ein Besuch bei Lara-Fashion, unter Neuköllner Musliminnen bestens bekannt. Hier gibt es Kopftücher in allen Variationen. Und die Gäste lernen, wie man den Stoff kreativ ums Haar drapiert. "Die meisten Zuhörer mögen den Abstecher ins Geschäft, es ist oft die beliebteste Station der Führung", sagt Farah.
Gummibärchen für alle
Insgesamt kommt die Tour bei den Gästen gut an. Sie richtet sich vor allem an junge Menschen, aber auch Erwachsene sind willkommen. Im Programm von "Wir sind Berlin" ist die Tour seit Sommer 2012: "Seitdem wurde sie schon rund 20 Mal gebucht", berichtet Leiterin Bluhm.
Die Schüler des Albert-Schweitzer-Gymnasiums sind froh, als sie an der letzten Station angekommen sind. Die Kälte ist ihnen mittlerweile in alle Glieder gefahren. Melike und Farah bitten um ein Feedback, dann gibt es für alle Gummibärchen. Natürlich ohne Gelatine, entsprechend der islamischen und jüdischen Vorschriften. Bei dieser Führung bewegt sich eben jeder irgendwie. Meist auf den anderen zu.