Zwei Ostdeutsche gehen voran
23. März 2012Welche Gemeinsamkeit haben US-Präsident Barack Obama und die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel? Beide gehören einer gesellschaftlichen Minderheit an. Der mächtigste Mann der Welt ist in einem von Weißen geprägten Land der erste schwarze Regierungschef. Die mächtigste Frau Europas ist die erste ostdeutsche Regierungschefin in einem westdeutsch geprägten Politikbetrieb. Und so wenig, wie sich seit Obamas Wahl 2008 am Verhältnis zwischen Schwarzen und Weißen in den USA geändert hat, so wenig hat sich in Deutschland seit dem Beginn der Kanzlerschaft Merkels 2005 am Verhältnis zwischen Ost- und Westdeutschen geändert.
An diesem Befund wird auch die Wahl des ebenfalls in der kommunistischen DDR sozialisierten neuen Bundespräsidenten Joachim Gauck nichts ändern. Zwei Ostdeutsche in den höchsten politischen Ämtern sind das eine, die Lebenswirklichkeit und daraus resultierende Wahrnehmungen der Menschen auf dem Gebiet der früheren DDR das andere. Ein Blick auf Statistiken und Umfragen zeigt deutlich, wie langsam sich die Lage objektiv und subjektiv verändert. Die Arbeitslosigkeit ist im Osten mit über zwölf Prozent fast doppelt so hoch wie im Westen (6,9). Der große Unterschied hat sich seit den frühen 1990er Jahren verfestigt.
Viele fühlen sich als Bürger zweiter Klasse
Enorm sind gut zwei Jahrzehnte nach der deutschen Vereinigung auch weiterhin die Einkommensunterschiede. Wer zwischen Ostsee und Sachsen arbeitet, bekommt im Schnitt nur 85 Prozent des Lohns, den man zwischen Hamburg und München erhält. "Demgegenüber hat sich der aktuelle Rentenwert (Ost) bereits bis auf knapp 89 Prozent an den Westwert angenähert", heißt es im schönsten Bürokratendeutsch, aber nicht ohne stolzen Unterton im "Jahresbericht der Bundesregierung zum Stand der Deutschen Einheit 2011". Die betroffenen Menschen aber freuen sich nicht über langsam schrumpfende finanzielle Unterschiede, sondern empfinden sie als ungerechte Benachteiligung.
Diese Enttäuschung manifestiert sich regelmäßig in Umfragen. Soziale Gerechtigkeit vermissen rund zwei Drittel der Ostdeutschen, belegen regelmäßig Untersuchungen seit Mitte der 1990er Jahre. Als Bürger zweiter Klasse fühlten sich auch 20 Jahre nach dem Mauerfall 42 Prozent, ermittelte das Allensbach-Institut. All diese Werte sind seit 2005, dem Beginn der Kanzlerschaft Angela Merkels, im Kern unverändert. Dass sich durch die nun beginnende Präsidentschaft Joachim Gaucks ein Wandel vollzieht, dafür gibt es keine erkennbaren Anzeichen.
Die Karrieren der Einen und die Niederlagen der Anderen
Zudem lohnt sich ein Blick auf die äußeren Umstände, unter denen beide Staatsvertreter in ihre hohen Ämter gelangt sind. Der langjährige Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde Gauck profitierte vom Rücktritt seines Vorgängers Christian Wulff, gegen den er bei der Präsidentenwahl 2010 noch unterlegen war. Schon damals hätte sich im Falle einer Wahl durchs Volk eine Mehrheit für den intellektuell und rhetorisch brillanten evangelischen Theologen entschieden. Aber das protokollarisch höchste Staatsamt wird in Deutschland von einem Gremium aus Delegierten des Bundes und der 16 Länder gewählt. Pikanterweise wollte Kanzlerin Merkel ihren ostdeutschen Landsmann Gauck auch nach dem Scheitern Wulffs ursprünglich verhindern, musste sich aber dem Druck des freidemokratischen Koalitionspartners beugen.
Ihren eigenen Aufstieg von der Familien-, später Umweltministerin, unter dem sogenannten Kanzler der Einheit, Helmut Kohl, über das Amt der CDU-Generalsekretärin bis zum Parteivorsitz verdankt Merkel neben ihrem ausgeprägten politischen Talent wesentlich der Parteispenden-Affäre ihres Förderers Kohl. Der hatte, wie sich Ende der 1990er Jahre herausstellte, illegal Spenden in Millionen-Höhe entgegengenommen. Damit manövrierte er die CDU in ihre größte finanzielle und politische Krise. Weil auch Kohls Nachfolger als Parteichef, der heutige Finanzminister Wolfgang Schäuble, in die Affäre verwickelt war, konnte die unbelastete Merkel das Zepter übernehmen.
Merkels Minister kommen alle aus dem Westen
Die beiden bemerkenswertesten ostdeutschen Karrieren sind also bei allen persönlichen Verdiensten und Fähigkeiten auch die Geschichten vom ebenso bemerkenswerten Scheitern ihrer westdeutschen Vorgänger. Wären Merkel und Gauck nur aufgrund ihrer Talente und Charaktereigenschaften im Kanzleramt beziehungsweise im Schloss Bellevue angekommen, würden Umfragen über die Zufriedenheit mit der Demokratie und das Selbstwertgefühl der Ostdeutschen höchstwahrscheinlich positiver ausfallen. Denn dann müsste es logischerweise quer durch alle gesellschaftlichen Bereiche weit mehr Menschen mit DDR-Hintergrund in Führungspositionen geben. Davon aber kann keinesfalls die Rede sein.
Keiner der von Merkel ernannten 14 Ministerinnen und Minister im Bundeskabinett kommt aus dem Osten. Und so wie in der Politik sieht es in der Wirtschaft oder in den Medien aus. Nach wie vor wird kein einziges der 30 Top-Unternehmen, die im deutschen Börsen-Index DAX gelistet sind, von einem Ostdeutschen angeführt. Selbst bei einem Blick auf die erweiterten Vorstände dieser Global Player entdeckt man in Person von Torsten Jeworreks bei der "Münchener Rückversicherungs-Gesellschaft" lediglich einen Manager mit DDR-Herkunft. Ähnlich sieht es in den großen Medienhäusern aus. Seit Ende 2011 gibt es mit Karola Wille beim Mitteldeutschen Rundfunk (MDR) immerhin die erste ostdeutsche Intendantin eines öffentlich-rechtlichen Senders. Die Chefredaktionen in den meinungsbildenden überregionalen Zeitungen sind komplett in westdeutscher Hand.
Es hat sich nur ganz wenig geändert
Das Fazit fällt 22 Jahre nach der staatlichen Vereinigung so klar wie ernüchternd aus: Wo auch immer man nach ostdeutschen Eliten sucht - sie sind schwer zu finden. Bundeskanzlerin Merkel und Bundespräsident Gauck sind kaum mehr als die Ausnahme von der Regel. Angesichts der Bedeutung ihrer Ämter sind es zwar ganz besondere Ausnahmen, die jedoch nicht zu falschen Schlussfolgerungen führen sollten. Das Land ist durch sie in keiner wie auch immer zu verstehenden Weise ostdeutscher geworden.