"Zur falschen Zeit am falschen Ort"
14. Januar 2020"Rückblickend betrachtet, hatte ich einfach Pech: zur falschen Zeit am falschen Ort…" So beginnt Matthias Katsch die Schilderung seiner Erfahrung von Missbrauch und Gewalt durch katholische Priester. Katsch, heute 57 Jahre alt, leitet damit in seinem Buch "Damit es aufhört. Vom befreienden Kampf der Opfer sexueller Gewalt in der Kirche", das in diesen Tagen erscheint, seine Jahre ab 1973 als junger Schüler im Berliner Canisius-Kolleg, einer Schule des Jesuitenordens, ein.
37 Jahre später, am 14. Januar 2010, ging Katsch mit zwei früheren Mitschülern noch einmal in seine alte Schule. Und sie konfrontierten mutig den Schulleiter, Pater Klaus Mertes, mit seinen Leidenserfahrungen. Der schrieb viele ehemalige Schüler an. Mehr als hundert Canisius-Absolventen meldeten sich - Opfer. Zwei Wochen später kam das Thema in die Medien. Die Fälle häuften sich zu einer Welle, zu erschreckenden Zahlen. Der Missbrauchsskandal der katholischen Kirche in Deutschland kam ins Rollen. Und lässt sie bis heute nicht los.
Tausende Täter, tausende Opfer, zigtausende Verbrechen
Katholische Bischöfe reagierten damals zunächst mit Empörung, bald mit Betroffenheit. Zuerst ging es eher um künftige Prävention als um Aufarbeitung. Die Politik griff das Thema auf und drängte zur Aufklärung. Erst 2018 lagen wissenschaftlich gesicherte Zahlen einer großen, von den Bischöfen in Auftrag gegebenen Studie vor, die aber wohl nie vollständig sein werden. Die Forscher sprachen von 3677 Betroffenen sexueller Übergriffe, für die sie in kirchlichen Akten aus den Jahren 1946 bis 2014 mindestens 1670 Priester und Ordensleute als Täter gefunden hätten. Da waren reine Ordenseinrichtungen noch nicht abgebildet. Bei rund einem Drittel der Kleriker wurde eine emotionale oder sexuelle Unreife festgestellt. Kardinal Reinhard Marx, der Vorsitzende der Bischofskonferenz, sprach von "schockierenden Ergebnissen", auch von "institutionellem Versagen". Es geht um Vertuschung und Versagen. Für den Missbrauchsbeauftragten der Konferenz, Bischof Stephan Ackermann, sind die Missbrauchsfälle, wie er jetzt sagte, eine "kirchengeschichtliche Zäsur".
Mehrfach seit 2010 haben die Bischöfe Schutzvorschriften und Prävention verschärft. Änderungen in der kirchlichen Gerichtsbarkeit, die für Transparenz sorgen sollen, sind in Vorbereitung. Aber eine der wesentlichen Forderungen der "Überlebenden", wie sich Opfer sexueller Gewalt auch selbst bezeichnen, steht noch aus. Mit Blick auf Hilfe, Unterstützung und Entschädigung sei bislang "wenig bis nichts passiert", sagte Matthias Katsch, Sprecher der Betroffeneninitiative "Eckiger Tisch", zum Jahrestag dem "Spiegel". "Keiner hat bisher einen Euro Entschädigung bekommen. Es gab Anerkennungszahlungen von maximal 5000 Euro pro Person. Wir warten auf die Antwort der Bischöfe auf unsere Vorschläge für eine faire Entschädigung in Höhe von bis zu 400.000 Euro pro Person." Gespräche laufen. Und Katsch verweist auf die lange erhobene Forderung nach einer "staatlichen Wahrheits- und Gerechtigkeitskommission zur Kirche", mit der sich die Betroffenen "leider nicht durchsetzen" konnten.
Bis in den Vatikan
Und die Vorgänge in Deutschland stießen Enthüllungsvorgänge in anderen Ländern an, auch weil Täter-Priester in früheren Jahrzehnten kreuz und quer durch Diözesen und die Bundesrepublik versetzt wurden und gerade im Ordensbereich Täter in andere Kontinente weiterzogen. Der einst dritte Mann der Weltkirche, der australische Kardinal George Pell, sitzt - wegen Missbrauchs verurteilt - in seiner Heimat im Gefängnis. Andere Kardinäle zogen sich aus der Öffentlichkeit zurück. Der Vatikan entließ hunderte Priester aus dem Klerikerstand, Dutzende Bischöfe gingen vorzeitig in Ruhestand. Auf der anderen Seite geht die kirchliche Basis auf die Barrikaden. Millionen Katholiken in Deutschland verließen seit 2010 ihre Kirche. Und Bischöfe sind Protestaktionen fast schon gewohnt. Der Synodale Weg der Kirche, der Anfang Dezember startete, zieht auch auf eine Abkehr von Macht der Männerkirche.
Deutschland, das theologisch eher liberale Land, wurde am Anfang der Aufarbeitung gelegentlich bespöttelt von konservativeren Kräften. Heute ploppen auch in Polen, Italien und Argentinien, auch in Ländern Afrikas oder Asiens Missbrauchsfälle auf. Angesichts der weltweiten Dimension lud Papst Franziskus im Februar 2019 Vertreter aller Bischofskonferenzen zu einem Anti-Missbrauchsgipfel in den Vatikan. "Hören wir den Schrei der Kleinen, die Gerechtigkeit verlangen", sagte Papst Franziskus und verlangte "Mut und Konkretheit". Und doch waren viele Beobachter am Schluss der Konferenz angesichts nur weniger konkreter Ergebnisse enttäuscht.
Tag für Tag - und eine Mahnung in Rom
Und das Thema geht weiter. Am Montag - ein zufälliges Beispiel - wurden im Libanon neue Ermittlungen der Justiz gegen die christliche Gemeinschaft "Mission de Vie" wegen Missbrauchsverdachts bekannt. An diesem Dienstag beginnt im französischen Lyon der Prozess gegen einen der schlimmsten bislang bekannten Täter des Landes, einen nun ehemaligen Priester, der sexuelle Gewalt gegenüber Dutzenden von Minderjährigen eingestanden hatte. Und das internationale Netzwerk "Ending Clergy Abuse" (ECA) plant bereits für Ende Februar: Zum ersten Jahrestag der vatikanischen Konferenz zu Missbrauch und Prävention wollen sie erinnern und kritische Zwischenbilanz ziehen. Das Thema bleibt.