Debatte um Sterbehilfe
26. April 2009Tugrul Cankurt ist ein pensionierter Lehrer aus Ankara - und hat in der Türkei eine Diskussion um Sterbehilfe ausgelöst. Bislang hatte die türkische Öffentlichkeit diese Debatte als ein Problem des westlichen Auslands wahrgenommen. Doch nun hat Tugrul Cankurt öffentlich angekündigt, seinem Leben mit Hilfe der Schweizer Organisation "Dignitas" ein Ende bereiten zu wollen.
Vorwürfe an die türkische Regierung
Seit einem Unfall vor fünf Jahren ist Cankurt vom Hals abwärts gelähmt. In der Fernsehsendung des Kanals "Show TV" erklärte er, aus Ankara zugeschaltet, die Gründe für seinen Wunsch zu sterben: "Das ist einerseits die Tatsache, dass es außer Atmen und Denken nichts mehr gibt, was ich selbst machen kann. Und dann habe ich das Gefühl, die Familie um mich herum durch meine totale Hilflosigkeit zu zerstören. Denken Sie nur, ich muss mindestens zwei Mal in der Stunde in eine andere Position gedreht werden."
Es gebe zu wenige Betreuungs- und Beratungsangebote für Schwerstbehinderte in der Türkei, ist ein Vorwurf, der in der Debatte immer wieder fällt. Auch die Ehefrau des Lehrers betonte in Interviews, dass der Staat die Familien alleine lasse: Häusliche Pflege müsse selbst bezahlt werden, für Rollstuhlfahrer gebe es nicht einmal abgesenkte Bordsteinkanten.
Eindeutige Aussage im Koran
Gläubigen Moslems ist jede Form von Selbstmord verboten. Auch das ist ein Grund dafür, warum es bislang über diese Frage kaum größere öffentliche Debatten in der Türkei gab. Das Leben sei von Gott gegeben, also könne es auch nur Gott wieder nehmen, betont der Istanbuler Theologe Abdulaziz Bayindir. Der Koran sei da eindeutig. "Schwerkranken in ihrer Verzweiflung zu helfen, ist eine Aufgabe der Gesellschaft. Denn wenn man es einem Schwerbehinderten erlaubt, sich das Leben zu nehmen, wie will man es dann einem vor Liebeskummer Verzweifelten verwehren?", fragt er.
Das habe der Theologe auch dem Schwerbehinderten Tugrul Cankurt und seiner Frau gesagt, als diese ihn in ihrer Verzweiflung um Rat gebeten hatten. Rechtlich ist Sterbehilfe in der Türkei strafbar. Detaillierte Regelungen, wie mit dem Willen von Schwerkranken zu verfahren ist - vergleichbar der deutschen Patientenverfügung -, gibt es nicht.
Durch die öffentliche Debatte kämen die Theologen unter Druck, sagt Abdulaziz Bayindir, der der Istanbuler Süleymaniye-Stiftung vorsteht, einer Art Infocenter in religiösen Fragen. Für den Gelehrten gibt es jedoch Ausnahmen vom religiösen Sterbehilfeverbot. "Wenn jemand nur noch von Apparaten am Leben gehalten wird, dann können diese abgeschaltet werden. Denn der Betreffende kann ja nicht mehr aus eigener Kraft leben. Diese Position ist unter islamischen Theologen unumstritten", erklärt er.
Bei Tugrul Cankurt ist das nicht der Fall. Während seine Entscheidung, zu sterben, die Diskussionsforen im Internet beschäftigt, hat der schwerbehinderte Lehrer längst die Koffer für seine letzte Reise gepackt: Am 4. Mai will Tugrul Cankurt in Zürich seinem Leben ein Ende setzen.
Autor: Gunnar Köhne
Redaktion: Julia Kuckelkorn