Führt Lukaschenko Krieg gegen Tote?
14. Juli 2022Die Zerstörung der Gräber von Soldaten der polnischen Heimatarmee (AK) im belarussischen Dorf Mikulischki hat in Warschau Empörung ausgelöst. Am 4. Juli schrieb der Vertreter des "Bundes der Polen in Belarus" (SPB), Marek Zanevsky, auf Facebook, dass die Grabstätte im Gebiet Grodno dem Erdboden gleichgemacht worden sei.
Das polnische Außenministerium spricht von einem "beschämenden Ereignis" und wirft Minsk vor, ihren Verpflichtungen nicht nachzukommen. "Dies erinnert an die dunkelsten Seiten in der Geschichte des Kommunismus und kann angesichts früherer Berichte über die Zerstörung polnischer Soldatenfriedhöfe nur als eine bewusste Aktion zur weiteren Verschlechterung der Beziehungen zwischen Polen und Belarus betrachtet werden", heißt es in einer Erklärung. Ende Juni hatte sich Warschau bereits besorgt über die Schändung von Gräbern polnischer Soldaten in mehreren Ortschaften der Region Grodno geäußert.
Die polnische Heimatarmee war eine Widerstands- und Militärorganisation im von Deutschland besetzten Polen während des Zweiten Weltkrieges. Sie bestand aus Freiwilligen, die sich die Befreiung Polens von der deutschen Besatzungsmacht zum Ziel gesetzt hatten. Nach dem Einmarsch der sowjetischen Roten Armee wurden sie entwaffnet, viele Offiziere erschossen oder in den GULAG geschickt. Ein Teil setzte den Widerstand fort, nun aber gegen die kommunistische Herrschaft.
Am 7. Juli wurde der Geschäftsträger Polens in Belarus, Martin Wojciechowski, in das belarussische Außenministerium einbestellt - "im Zusammenhang mit der unbegründeten Besorgnis der polnischen Seite bezüglich der Situation in der Nähe des Dorfes Mikulischki". Auf der Facebook-Seite des Ministeriums heißt es, dem Diplomaten sei erläutert worden, dass laut den Behörden "in dem Ort keine Soldatengräber und Bestattungen ausländischer Soldaten registriert" seien. Die Arbeiten auf jenem Gelände hätten keine Hinweise auf menschliche Überreste ergeben.
Wer wurde in Mikulischki begraben?
"Es war schon immer bekannt, dass dort polnische Soldaten begraben sind. Um das Gegenteil zu behaupten, müssten die belarussischen Behörden eine Exhumierung vornehmen. Doch das Gebiet wurde einfach zerstört und ein Haufen Sand darauf gekippt", sagt Marek Zanevsky vom SPB im Gespräch mit der DW. Er betont, seine Organisation und auch Anwohner hätten die Grabstätte regelmäßig gepflegt.
Zanevsky zufolge ist das nicht der erste Angriff auf polnische Gedenk- und Begräbnisstätten in Belarus. Am 8. Juli meldete er die Zerstörung von Gräbern in Volkovysk, und der polnische Fernsehsender Belsat berichtete über die Schändung von Gräbern im Dorf Katschitschi im Bezirk Karelitschy.
Dass auf dem Friedhof bei Mikulischki Angehörige der Polnischen Heimatarmee begraben liegen, ist dem belarussischen Historiker Alexander Paschkewitsch zufolge sicher. "Die meisten starben 1944 im Kampf gegen die deutschen Nazis und die von ihnen kontrollierten litauischen Verbände. Nur wenige der dort Bestatteten wurden vom sowjetischen Geheimdienst NKWD getötet", sagt er.
Auch andere Gedenkstätten in Gefahr?
Paschkewitsch betont, im Westen von Belarus gebe es viele solcher Gräber. Meist seien sie in einem guten Zustand, da Vertreter der polnischen Gemeinde sie pflegen würden, was vom polnischen Staat unterstützt werde. "Die belarussischen Behörden verhielten sich bezüglich der Gräber neutral, sie kümmerten sich nicht um sie, hinderten aber auch andere nicht daran. Außerdem gab es ein zwischenstaatliches Abkommen zum Schutz von Gräbern und Gedenkstätten, das Belarus und Polen 1995 unterzeichnet hatten."
In den vergangenen Jahrzehnten habe es zwar Repressionen gegen polnische Aktivisten gegeben, so der Historiker, aber von einem "Krieg gegen die Toten" habe man von staatlicher Seite früher abgesehen. Mit der jetzigen Zerstörung polnischer Gräber wolle Minsk Warschau offenbar für seine kompromisslose Haltung gegenüber dem Regime von Machthaber Alexander Lukaschenko bestrafen. "Alle Gräber, Gedenkstätten oder historischen Objekte können unter Repressionen fallen, wenn sie Polen oder Litauern, aber auch national gesinnten Belarussen heilig sind", erläutert er.
Staatsanwaltschaft gegen Heimatarmee
Im postkommunistischen Polen wird die Heimatarmee geehrt. Die belarussischen Behörden hingegen setzen ihre Soldaten mit "faschistischen Verbrechern" gleich. So wurde am 9. April 2021 ein Strafverfahren gegen einstige Soldaten der Heimatarmee "wegen Genozids am belarussischen Volk" während des Zweiten Weltkriegs eingeleitet. Später erklärte Generalstaatsanwalt Andrej Schwed im Staatsfernsehen, es gebe noch "lebende Nazi-Verbrecher", meist aus den "litauischen SS-Bataillonen und der Heimatarmee".
Der polnische Historiker Janusz Marszalec findet Vergleiche zwischen der Heimatarmee und den Nazis absurd. Einzelne Fälle von Verbrechen, die von Angehörigen der Heimatarmee begangen wurden, sind dokumentiert. Dazu gehörten die Tötung von Juden und "Vergeltungsaktionen" gegen die sowjetisch geführten Partisanen der "Vilnius-Brigaden", deren Opfer Zivilisten in Litauen waren. "Das wirft natürlich einen Schatten auf die Heimatarmee. Aber über solche Verbrechen in Belarus ist nichts bekannt", sagt Marszalec.
Laut Alexander Paschkewitsch stehen die Belarussen der Heimatarmee reserviert gegenüber. Im Osten, wo sie im Zweiten Weltkrieg nicht operierte, wussten die meisten Menschen fast nichts über sie und hatten von ihr nur eine stereotype Vorstellung, die auf der Staatspropaganda basierte. "Im Westen von Belarus war die Geschichte der Heimatarmee oft mit der eigenen Familie verbunden. Vieles hing davon ab, welche Art von Erinnerung an den polnischen Untergrund von den Vorfahren bewahrt wurde", so der Historiker. Ihm zufolge betrachtete die belarussische Gesellschaft die Soldaten der Heimatarmee nicht als eigene Helden. "Gleichzeitig wird es der staatlichen Propaganda aber wohl kaum gelingen, die jetzige Zurückhaltung in allgemeinen Hass zu verwandeln", glaubt Paschkewitsch.
Adaption aus dem Russischen: Markian Ostaptschuk