Zeit des Zorns
9. April 2010Durch die Kamera des iranischen Regisseurs Rafi Pitts betrachtet ist Teheran ein bedrückender, lebensfeindlicher Ort: ein menschenleerer Moloch, durch den sich mehrspurige Autobahnen winden, vorbei an grauen Wohnsilos und ausgestorbenen Betonsiedlungen. Und ebenso trostlos wirkt auch das Leben von Ali: Dem ehemaligen Häftling gewährt man lediglich einen Job als Nachtwächter, seine Ehefrau Sara und seine sechsjähige Tochter Saba bekommt er fast nie zu Gesicht. An seinen freien Tagen geht Ali auf die Jagd. Alles scheint er mit stoischer Ausdruckslosigkeit hinzunehmen.
Als Ali eines Tages von der Arbeit nach Hause kommt, ist die Wohnung verwaist. Seine Frau, so erfährt er schließlich, ist bei einer Schießerei der Polizei mit Demonstranten ums Leben gekommen, ein "Kollateralschaden", für den sich niemand verantwortlich fühlt. Irgendwie seien die beiden zwischen die Fronten geraten, heißt es lapidar. "Nur eine Autopsie kann zeigen, ob die Kugeln von der Polizei oder von den Rebellen waren", so der Untersuchungsbeamte. Nach Tagen voller Qual und Behördenschikanen wird er zur Identifizierung der Leichen geführt, erst zur Frau, dann zur Tochter - lakonisch, nüchtern - ohne ein Wort des Mitgefühls zu bekommen.
Tickende Zeitbombe
Auch diese Nachricht entlockt Ali keinerlei sichtbare Gefühlsregung, gefasst fährt er nach Hause, packt sein Jagdgewehr ein und steigt auf einen Hügel an der Peripherie Teherans, wo sich die mehrspurigen Highways ineinander schrauben. Wahllos verfolgt er vorbeifahrende Autos im Zielfernrohr, den Finger am Abzug. Als zufällig eine Polizeistreife auftaucht, drückt er ab. Einen der Polizisten, der sich, schwerverletzt aus dem Wagen kriechend, in Sicherheit zu bringen versucht, streckt er mit einem weiteren, präzisen Schuss auf dem Asphalt nieder. Der Zuschauer wird Zeuge einer regelrechten Hinrichtung; für Ali ist die Zeit des Zorns angebrochen.
Als "tickende Zeitbombe" hat Regisseur Rafi Pitts die Hauptfigur bei der Berlinale beschrieben, wo der Film seine Welturaufführung hatte. "Er ist unterdrückt, unfrei, er muss nachts arbeiten und er kann nicht das Leben führen, das er möchte. Dabei will er nur etwas ganz Einfaches, nämlich Zeit mit seiner Frau und seiner Tochter verbringen, mehr nicht. Und als ihm das auch noch genommen wird, tickt er aus."
Knapp durch die Zensur
Dass Pitts’ Film überhaupt im Februar dieses Jahres bei der Berlinale lief, war eine kleine Sensation: Es habe ihn mehrere Monate gekostet, die Zensurbehörden von seinem Drehbuch zu überzeugen, so Pitts. Förderungswürdig sei das Werk jedoch nicht, befand die Behörde und vergab eine Genehmigung der "Kategorie C", was so viel bedeutet wie: darf gedreht werden, aber ohne staatliche Hilfen.
Vielleicht liegt es daran, dass Pitts' Anklagen in dem Film erst auf den zweiten Blick deutlich werden: "Zeit des Zorns" ist ein leiser Film, in dem dramatische Situationen auf geradezu lakonische Weise heruntergespielt werden. Die Hauptfigur ist ein verschlossener, in sich gekehrter, grimmiger Charakter, der dem Zuschauer bis zum Ende fremd bleibt. Doch wer sich auf die sperrige Dramatik des Filmes einlässt, erkennt das Symbolhafte darin: Das lange Warten in Behördenfluren, die unnachgiebigen Verhöre Alis, Teherans Betonwüste oder die düster-poetischen, streng komponierten Bilder werden zur Parabel für eine Gesellschaft, die politisch und sozial erstarrt ist. Die blinde Wut des Jägers ist nicht bloß die Reaktion auf den Tod seiner Familie, sondern sie reflektiert ein Gefühl der Ohnmacht. Und das durchgeladene Gewehr wirkt wie die Antwort auf das aggressive Regime, das Opposition bestraft, Gegner töten lässt und sich mit aller Gewalt an der Macht zu halten versucht.
Überraschende Aktualität
Durch die Ereignisse nach dem 12. Juni 2009 erhielt die deutsch-iranische Koproduktion überraschende Aktualität. Bis heute gehen die Menschen in Massenprotesten auf die Straßen, um gegen den angeblichen Sieg Mahmud Ahmadinedschads bei den Wahlen zu protestieren, bis heute sterben dabei Menschen, werden Oppositionelle verhaftet. "Wir hatten die Drehgenehmigung lange vor den Geschehnissen. Wir drehten zufällig während der Wahlen im Iran. Und wenn es zu dieser Zeit Demonstrationen im Iran gab, ist es natürlich klar, dass so etwas Einfluss auf den Film nehmen könnte", erklärte Rafi Pitts.
Das Regime in Teheran hat den Druck auf seine international anerkannten Filmemacher seit der Berlinale drastisch verschärft. Mehdi Pourmoussa, Pitts’ Regieassistent, wurde verhaftet, ist aber wieder in Freiheit. Regisseur Jafar Panahi, der mit seinem Fußballfilm "Offside" den Silbernen Bären der Berlinale gewann, sitzt im Gefängnis. Und Pitts selbst, 1967 im Iran geboren, aber genauso in England und Frankreich zu Hause, traut sich nicht mehr zurück in den Iran.
Autorin: Ina Rottscheidt
Redaktion: Thomas Latschan