Brasilianische Blogosphäre
4. Dezember 2009Blogs gibt es noch nicht sehr lange - Mitte der 1990er Jahre erschienen die ersten Blogs im Internet. Meine eigene Geschichte als Bloggerin begann so: Im letzten Jahr des 20. Jahrhunderts registrierte ich eine Internet-Domain und erstellte eine Seite names Farofa [brasilianische Beilage aus Maniokmehl]. Das Ziel, das ich mit dieser Seite verfolgte, war, eine weiteres Teilchen zum großen World Wide Web hinzuzufügen - eine Beilage zum Hauptgericht zu reichen, bildlich gesprochen. So entstand die Idee des Namens. Farofa wuchs, ich bekam bald kommerzielle Angebote und nach wenigen Monaten fing ich an, beruflich für das Internet zu schreiben. Eine der Rubriken von Farofa war eine Tageschronik namens Querido Diário [Liebes Tagesbuch], das ich schnell zu Querido Leitor [Lieber Leser] umbenannte.
Technische Herausforderungen
Für die Site zu schreiben war eine komplexe Aufgabe, für die spezifische Programme nötig waren. Nachdem ich die Seiten erstellt hatte, mussten sie durch einen "Upload" an einen Server geschickt werden. Die benötigten Programme (Dreamweaver und FireFTP) hatte ich nur auf meinem Computer, was zur Folge hatte, dass ich die Site nur zu Hause aktualisieren konnte. Dadurch wurde es zu einer fast unmöglichen Mission, die Farofa "warm", heißt "aktuell", zu halten, und es erforderte eine Herkulesarbeit, dem Versprechen gerecht zu werden, gewissermaßen nicht nur das Mehl anzubieten, sondern auch frische Eier im Internet zu gewährleisten.
Anfang 2000 lernte ich dann ein neues Webseiten-Tool namens Blog kennen. Der Begriff "Blog" leitet sich aus "Web log" ab, das Logbuch (log book) des Internetsurfens, in Analogie zur Seefahrt und zu den dort üblichen Bordtagebüchern.
Eintauchen in die Welt der Blogs
Blogs, die per se internetbasiert sind, erlauben die Aktualisierung überall. Die Voraussetzungen waren denkbar einfach: Es reichte, sich einen Zugang zum Internet zu beschaffen, sich einzuloggen und die Blogposts hochzuladen. Blogs schienen wie ein elektronisches Pergament zu sein, das sich vor meinen Augen entrollte. Das war wie Zauberei. Es bedeutete einen riesigen Fortschritt, so wichtig wie die Entstehung des Mobiltelefons, das dem alten Festnetztelefon Mobilität verliehen hatte. Mit einer Unsicherheit jedoch entschied ich mich in die Welt der Blogs einzutauchen: Sollte ich ein Blog für Farofa oder ein Blog für Querido Leitor erstellen? Schlussendlich habe ich habe zwei Blogs aufgesetzt. Farofa wurde vom Winde verweht. Aber Querido Leitor wurde zu einer Herzensangelegenheit. Ich trat ins 21. Jahrhundert mit dem Wort Bloggerin auf der Stirn eingraviert und auf die Brust tätowiert.
Ich lernte Text-, Audio- und Videobotschaften zu verschicken und Livestreams zu machen, alles über das Handy. Ich fing an, mein Notebook in meiner Tasche mitzunehmen, mit Wi-Fi und Modem 3G - all das um permanenten Kontakt zum Blog zu haben. Während fast eines Jahrzehnts habe ich das erste Blogpost schon vor dem Frühstück eingestellt. Oft bin ich aus dem Bett aufgestanden, weil ich vergessen hatte, den Lesern "Gute Nacht" zu sagen. Durch Blogs habe ich Freunde kennen gelernt, Reisen gemacht, Gelegenheiten wahrgenommen, Arbeit und Preise bekommen.
Bloggen heißt kommunizieren
Ich lernte Blogs von Journalisten, Schauspielern, Bürgern, Aktivisten, Politikern und Humoristen kennen. Ich sah Leute über 80, die das Leben in den Blogs wieder entdeckt haben. Ich lernte einen Taxifahrer kennen, der die Stadt fotografierte, um Posts zu erstellen. Ich habe Organspende-Kampagnen begleitet, Umweltschutzbewegungen unterstützt und an Flashmobs teilgenommen. Ich habe meinen lieben Mischling Laika über eine Freundin adoptiert, die ich in der Blogosphäre kennen lernte. Ich bekam und schickte Geschenke. Ich habe mir Promotionsaktionen ausgedacht und Preise vergeben. Mit Buchspenden stellte ich eine Bibliothek für Maria zusammen, die als Kassiererin in einem Supermarkt meines Viertels arbeitet. Neulich bin ich nach Bonn gefahren, um den ehrenvollen Preis The BOBs 2009 für Querido Leitor zu bekommen, das als bestes Weblog in portugiesischer Sprache ausgezeichnet wurde.
Am Ende des ersten Jahrzehnts der 2000er können wir behaupten, dass die wichtigste "Revolution" der Blogs die weitreichende und uneingeschränkte Auseinandersetzung war, die aus dieser Art von Graswurzeljournalismus entstand: die direkte und öffentliche Information ohne Vermittlung. Die Blogs haben die Ausdrucksweise von Online-Texten verändert. Sie haben sich dem Leser genähert. Durch die Kommentare haben sie den Dialog gefördert.
Soziale Medien in Brasilien
In Brasilien spielen inzwischen soziale Netzwerke eine wesentliche Rolle. Orkut zum Beispiel, vergleichbar mit Facebook, ist in Brasilien die Nummer 1, was die Zahl der User betrifft. Diese Netzgemeinschaft konkurriert mit Google um den ersten Platz der am meisten geklickten Webseiten in unserem Land. Wenn man in irgendein Internetcafe geht, ein Gemeindezentrum mit Zugang zum Internet besucht oder sogar bei der Arbeit, in Schulen ins Netz geht, wird man sicherlich Leute treffen, die Orkut aufrufen.
Auch Blogs haben in Brasilien weiterhin großen Zulauf. Die brasilianische Blogosphäre ist genauso mächtig wie große traditionelle Medienportale. Unter den einflussreichsten Blogs würde ich "Blog do Noblat", "Blog do Milton Jung", "Pensar Enlouquece","Contraditorium" nennen. In Brasilien sind die Humorblogs die bestbesuchten Blogs, wie zum Beispiel der "KibeLoko".
Heute kann ein Autorenblog den Themenplan großer Fernsehsender beeinflussen. Es gibt viele Beispiele: von Humorvideos, die in großen Fernsehprogrammen landsweit Schlagzeilen machen bis zu politischen Aktionen in Blogs, die zu Kundgebungen auf der Straße führen.
Dieser Prozess ist bei weiten noch nicht beendet. Im Gegenteil, täglich interessieren sich immer mehr Künstler, Politiker, Nichtregierungsorganisationen und normale Bürger für Blogs. 2010 ist Wahljahr in Brasilien. Wir werden ein neues Phänomen erleben: die verstärkte Präsenz von Kandidaten und Wahlkämpfen in Blogs und sozialen Netzwerken.
Für uns Brasilianer bedeutet es einen Triumph. Je mehr es Informationen und Transparenz gibt, desto mehr werden Dialog und folglich mehr Demokratie daraus folgen.
Ein Blick in die Zukunft ...
Zu Beginn eines neuen Jahrzehnts sehe ich, dass die erste Generation der Blogs die Pubertät erreicht haben wird und für das Erwachsenleben vorbereitet sein wird. Es gibt noch viel zu erleben, lernen und entdecken.
Heute bin ich eine professionelle Bloggerin. Aber wie damals bleibe ich leidenschaftlich. Ich stelle immer noch mein erstes Posting vor dem Frühstück ein, ich sage "Gute Nacht" bevor ich ins Bett gehe, ich nehme Anteil an Entdeckungen und lerne mit den Lesern. Ich habe immer dieselbe Leidenschaft behalten. Weil es keine Veröffentlichung ohne Leidenschaft für das Blog gibt. Oder, um den Ursprung des Begriffs Web log treu zu sein: ohne Leidenschaft gibt es keinen Eintrag.
Rosana Hermann ist Schriftstellerin, Drehbuchautorin und Moderatorin. Sie hat Nuklearphysik und Journalismus studiert. Unter anderen hat sie für die Fernsehsender SBT, Rede Globo und Band gearbeitet. Heute ist sie Produkt- und Kreativdirektorin bei R7 (www.r7.com), einem der größten Internetportale Brasiliens.
Autor: Rosana Hermann / Carlos Albuquerque
Redaktion: Petra Füchsel