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Politik

Wo Krebskranke zu Störern werden

Martin Fritz
13. März 2017

Die wachsende Zahl von jungen Schilddrüsenkrebskranken in Fukushima bringt japanische Regierung zunehmend in Erklärungsnot. Martin Fritz hat Patienten und besorgte Eltern in Fukushima getroffen.

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Japan Kinder in Fukushima
Bild: Greenpeace/Jeremy Sutton-Hibbert

Die junge Japanerin wirkt stark und selbstsicher, aber als sie über ihren Krebs spricht, werden ihre Augen feucht und ihre Stimme beginnt zu zittern. "Mein Arzt sagt, dass die radioaktive Strahlung nicht die Ursache dafür ist. Aber was soll es sonst gewesen sein?", sagte die heute 22-Jährige aus Koriyama in der Präfektur Fukushima dem US-Dokumentarfilmer Ian Thomas Ash. Als Erste von inzwischen 185 Kindern und Jugendlichen in Fukushima, die bei der Atomkatastrophe im März 2011 unter 18 Jahre alt waren und danach an Schilddrüsenkrebs erkrankten, hatte sie vor einem Jahr öffentlich vor laufender Kamera über ihr Leiden gesprochen.

Die japanischen Medien ignorierten ihren Auftritt in dem Fukushima-Dokumentarfilm "A2-B-C". Kein anderer Krebspatient aus Fukushima folgte ihrem Beispiel. Nur zwei Väter meldeten sich in einer Videokonferenz zu Wort, jedoch mit verzerrter Stimme und ohne ihr Gesicht zu zeigen. Sie berichteten von dem Druck, unter dem die Angehörigen stünden. "Ich kann niemandem erzählen, dass mein Kind an Krebs erkrankt ist", klagte ein Vater. Denn Gesellschaft und Politik in Japan wollen die Atomkatastrophe vor nunmehr sechs Jahren hinter sich lassen und sich lieber auf den Wiederaufbau konzentrieren.

Japan Pharmaindustrie Symbolbild
(Archiv) Das Gesundheitszentrum in Koriyama Bild: Getty Images/AFP/K. Shimizu

Opposition und Regierung einig

Bei der Vergabe der Olympischen Spiele 2020 nach Tokio vor dreieinhalb Jahren hatte Japans Premierminister Shinzo Abe der Welt versichert, das Atomkraftwerk Fukushima sei unter Kontrolle. Seitdem laufen die Stilllegung der Reaktoren und die Rückbesiedlung der Evakuierungszone auf Hochtouren. Auch die Opposition fasst das Thema nicht an, weil sie damals selbst regierte und schwere Fehler machte. Etwa versäumte sie das Verteilen von Jodtabletten und schickte evakuierte AKW-Anwohner versehentlich in radioaktive Wolken. So kümmert sich heute niemand um die Krebskranken in Fukushima. "Die Patienten gelten als Störer des Wiederaufbaus und sind in der Gesellschaft isoliert", erklärt Hisako Sakiyama, die 77-jährige Gründerin des Hilfsfonds für schilddrüsenkrebskranken Kinder ("3/11 Fund for Children with Thyroid Cancer").

Eine einzelne Krebserkrankung auf radioaktive Strahlung zurückzuführen, ist wissenschaftlich unmöglich. Seit dem Atomunfall von Tschernobyl weiß man aber, dass sich radioaktives Jod-131 in den Schilddrüsen vor allem von Kindern und Teenagern sammelt und dort Krebs verursachen kann. In Fukushima wurde etwa halb so viel Jod in die Luft geschleudert wie in Tschernobyl. Auch die dortige gesundheitliche Lage ähnelt immer mehr der nach der Tschernobyl-Katastrophe. Die Zahl der Schilddrüsenkrebsfälle bei Kindern und Jugendlichen sei 20- bis 50-Mal höher als in nicht verstrahlten Gebieten in Japan, berichtete der Epidemiologe Toshihide Tsuda. Sein Team wertete die Daten der 2011 begonnenen Ultraschall-Untersuchungen der Schilddrüsen der meisten Kinder und Jugendlichen in Fukushima aus. Zudem steigt Zahl der Erkrankungen im Verlauf der Jahre an und der männliche Anteil ist wie in Tschernobyl hoch, während Schilddrüsenkrebs eher als eine Frauenkrankheit gilt.

Regierung verneint Gesundheitsgefahr

Doch die japanische Regierung verneint weiter jeden Zusammenhang zwischen Strahlung und Krebs. Die Menge an ausgetretenen radioaktiven Materialien in Fukushima sei deutlich kleiner als in Tschernobyl gewesen und die Umgebung schneller evakuiert worden. Die Gesundheitsuntersuchungen bleiben auf Fukushima beschränkt, obwohl auch andere Gebiete verstrahlt wurden. Ein WHO-Papier mit der Warnung vor leicht steigenden Schilddrüsen-, Blut- und Brustkrebs in höher verstrahlten Fukushima-Bezirken wurde nie ins Japanische übersetzt. Stattdessen berufen sich die Beamten auf eine Prognose des "Wissenschaftlichen Ausschusses der Vereinten Nationen zur Untersuchung der Auswirkungen der atomaren Strahlung" (UNSCEAR), wonach es keinen Anstieg der Krebsfälle geben werde.

Die unerwartet hohe Zahl von inzwischen 185 Fällen von Schilddrüsenkrebs erklärten die Behörden als eine Folge der Massenuntersuchung. Dabei seien Tumore entdeckt worden, die sonst nie gefunden worden wären. "Es ist schwer vorstellbar, dass die Krebsfälle auf die radioaktive Strahlung zurückzuführen sind", heißt es im Zwischenbericht des Fukushima-Aufsichtskomitees von Ende März 2016. Für diese frühe Bewertung hat Hilfsfonds-Gründerin Sakiyama, selbst eine Zellbiologin, nur eine Erklärung: "Die Regierung will keine Verantwortung für den AKW-Unfall übernehmen und mit der Atomkraft weitermachen."

Bildergalerie Fukishima 2 Jahre danach Medizinische Untersuchung
(Archiv) Ein japanischer Arzt untersucht die Schilddrüse eines PatientenBild: Reuters

Schilddrüsenexperte zieht sich zurück

An echter Aufklärung scheinen die Behörden wenig interessiert. Die Untersuchung der Schilddrüse ist freiwillig und findet lediglich alle zwei Jahre statt - in Tschernobyl zweimal jährlich. Die Beteiligung an der Untersuchung ist von 82 Prozent im ersten Durchgang auf 45 Prozent im zweiten gesunken. Auch die Operationen an der Schilddrüse dürfen nur in bestimmten Krankenhäusern stattfinden, sonst werden die Kosten nicht übernommen. So behält das Aufsichtskomitee die Kontrolle über alle Krebsdaten.

Doch dort sitzen keine unabhängigen Fachleute mehr. Der einzige Schilddrüsenexperte, Kazuo Shimizu, zog sich im Oktober 2016 zurück und distanzierte sich von der Komitee-Meinung, die Strahlung sei für den Krebs nicht verantwortlich. Die hohe Rate widerspreche seiner klinischen Erfahrung, sagte der Arzt, der seit vielen Jahren Schilddrüsenkrebspatienten in Tschernobyl behandelt.

Zahl der Krebsfälle könnte weiter steigen

Der japanische Staat hat immer wieder seine Bürger zurückgelassen, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Das erlebten etwa Atombombenopfer aus dem Zweiten Weltkrieg, Minamata-Geschädigte durch Quecksilbervergiftung, zwangssterilisierte Leprakranke und die Angehörigen von Blutern, die an HIV-verseuchten Arzneimitteln starben. Meistens dauerte es viele Jahre, bis sich Betroffene und Opfer organisieren und protestieren konnten. Dieser Prozess hat in Fukushima gerade erst begonnen. Noch ist die Zahl der Krebserkrankungen überschaubar. Jedoch rechnet Epidemiologe Tsuda für die nächsten Jahre mit mehr Fällen.

Schilddrüsenkrebs verläuft selten tödlich, wenn er frühzeitig behandelt wird. Jedoch müssen die Patienten bei einer Totaloperation für den Rest ihres Lebens Medikamente einnehmen. Das ist besonders für junge Menschen eine Belastung. Bei einer frühen Entdeckung raten daher manche Ärzte zum Abwarten und Beobachten. Der Mediziner Kenji Shibuya von der Universität Tokio warnte deshalb vor "Überdiagnosen und Übertherapie". Dies wies der Chirurg Shinichi Suzuki, der die meisten Schilddrüsenoperationen durchführte, zurück. Er habe auch viele Metastasen bis in Lymphknoten und Lunge gefunden.

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(Archiv) Inzwischen wurden 185 Fälle Schilddrüsenkrebs um Fukushima diagnostiziertBild: Reuters

Hilfsfonds findet viele Unterstützer

Das Mitgefühl nimmt unterdessen zu. Der Hilfsfonds für die Krebskinder wird von mehreren Prominenten, darunter dem konservativen Ex-Premierminister Junichiro Koizumi, unterstützt und sammelte in wenigen Monaten über 200.000 Euro ein. 66 Familien wurde damit schon geholfen. Zudem hinterfragen erste Betroffene das Argument der Behörden, viele Tumoren wären unter anderen Umständen weder gefunden noch behandelt worden. Empörte Eltern wandten sich in einem offenen Brief an den Vorsitzenden des Aufsichtskomitees, Hokuto Hoshi: "Wie viele der Operationen waren denn unnötig? Gab es Übertherapien und Behandlungsirrtümer?" Die Fragen hat Hoshi nie beantwortet.

Die Erklärungsnot der staatlichen Behörden ist inzwischen so groß geworden, dass sie ihre Strategie geändert haben. Das Aufsichtskomitee beschloss im Februar, ein neues Fachgremium einzusetzen. Es soll wissenschaftlich "neutral" feststellen, die Krebsfälle seien nicht durch die radioaktive Strahlung verursacht worden. Dann hätte man einen Grund, die Zahl der Untersuchungen zu verringern. Dadurch gingen auch die Diagnosen zurück und die Debatte würde verebben.

Doch viele Wissenschaftler fordern bereits die Fortsetzung der Datensammlung. Und in den Regionen Tochigi und Chiba nördlich und südlich von Fukushima sind die Stimmen von besorgten Müttern so laut geworden, dass nun auch dort die Schilddrüsen von Kindern und Jugendlichen kostenlos untersucht werden.