Wirtschaftsfragen dominieren China-Besuch
28. Oktober 2015Die Reise von Bundeskanzlerin Angela Merkel in Begleitung einer hochrangigen Wirtschaftsdelegation nach Peking fällt in eine Zeit großer Verunsicherung über den weiteren wirtschaftlichen Weg Chinas. Zwar betont die chinesische Führung, dass auch das - bereits abgespeckte - Wachstumsziel von sieben Prozent nicht in Stein gemeißelt sei und die "neue Normalität" des chinesischen Wachstums sich darunter einpendeln könnte.
Tatsächlich lag das offizielle Wachstum für das dritte Quartal bei historisch niedrigen 6,9 Prozent, trotz der insgesamt sechs Zinssenkungen durch die Zentralbank seit vergangenem November. Hinzu kommen rückläufige Handelszahlen. Nach Angaben des Statistischen Amts der EU (Eurostat) ist in der ersten Jahreshälfte 2015 der Handel zwischen beiden Ländern um knapp zwölf Prozent zurückgegangen. Mit einem Volumen von 154 Milliarden Euro (2014) ist China der größte Handelspartner der Bundesrepublik außerhalb Europas.
Pessimismus im deutschen Chinageschäft
Kein Wunder, dass unter den in China tätigen deutschen Unternehmen eine pessimistische Stimmung eingekehrt ist - nicht zuletzt hervorgerufen durch die Schockereignisse dieses Sommers, wie Jörg Wuttke, Vorsitzender der Europäischen Handelskammer in China, gegenüber der DW erläutert. "Erstmals ist der Renminbi abgewertet worden, wenn auch nur marginal, was aber große Wellen geschlagen hat, dann ist die Börse vorübergehend zusammengebrochen, was aber mehr in der Moral, weniger in der Realwirtschaft Auswirkungen hatte, und schließlich hatte die Immobilienkrise in vielen Städten Chinas auch Auswirklungen auf die Automobilbranche, so dass die Zahlen dort im zweiten und dritten Quartal schlecht aussahen."
Wuttke rechnet mit einem weiter abgeschwächten Wachstum in den nächsten ein oder zwei Jahren, China werde "de facto eine Krise durchlaufen", und das werde sich unter anderem auf die deutsche Automobilindustrie und andere Branchen auswirken. "Deshalb wird Frau Merkel sicherlich interessiert sein zu erfahren, insbesondere im Gespräch mit Premierminister Li Keqiang (Artikelbild oben), was die chinesische Regierung dagegen zu tun gedenkt."
Chancen durch Umbruch
Von einer Krise der deutsch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen will der Wirtschaftswissenschaftler Shen Ling an der Technischen Universität Ostchinas in Schanghai nicht reden. Im Interview mit der DW sagt er, trotz der gesunkenen Wachstumszahlen sei Chinas Wirtschaft "immerhin nicht in die Rezession geraten". Im Vergleich zur restlichen Welt sei 6,9 Prozent zweifelsohne ein "Spitzenwert". Entscheidend sei folgendes: Das alte, über 30 Jahre alte Wachstumsmodell habe sich als nicht nachhaltig erwiesen, daher brauche China dringend einen Strukturwandel. "Das führt selbstverständlich zu einer Verlangsamung des Wachstums. Aber gerade hier liegen große Chancen für Deutschland", sagt der VWL-Absolvent von der Uni Bonn.
"Die zurückgehenden Handelszahlen sind nur eine kurzfristige Erscheinung. Langfristig braucht China noch mehr Hightech-Importe. Woher sollen die kommen? Die Amerikaner oder die Japaner verkaufen sowas ungerne an ihre Rivalen. Dann bleibt praktisch nur noch Deutschland."
Reizthemen in den Hintergrund gerückt
Auch für China-Experten Eberhard Sandschneider von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik "laufen die deutsch-chinesischen Beziehungen alles in allem sehr gut", und zwar auf wirtschaftlicher wie auch auf politischer Ebene. "Die großen Reizthemen, die in den letzten Jahren immer wieder auf der Tagesordnung standen, wie beispielsweise die Verletzung von geistigen Eigentumsrechten, haben ihre unmittelbare Wirkungskraft verloren."
Zu den "Reizthemen" gehört auch die Menschenrechtslage in China. Vermutlich werde Merkel auch dieses Thema ansprechen, denn es ist "Teil des strategischen Dialogs zwischen beiden Seiten. Die Tatsache, dass der wirtschaftliche Schwerpunkt besondere Bedeutung hat, heißt nicht, dass andere Schwerpunkte von der Tagesordnung verschwinden", erläutert Sandschneider gegenüber der DW.
London für Peking wichtiger als Berlin?
Eben diesen Eindruck musste man vom pompösen Staatsempfang für Xi Jinping in London in der vergangenen Woche bekommen. Der Chef des chinesischen Einparteienstaats darf sogar vor der "Mutter der Parlamente" sprechen, vor Unter- und Oberhaus. So könnte Druck auf die Bundeskanzlerin zukommen, meint Sebastian Heilmann, Direktor des Berliner Mercator Institute for China Studies (MERICS), im jüngsten Newsletter des Instituts. "Die chinesische Regierung wird von der Kanzlerin verlangen, dass sich Deutschland gegenüber China genauso einladend und wertschätzend zeigt wie jüngst die britische Regierung." Merkel werde dennoch kritische Worte finden, etwa zum Territorialkonflikt im Südchinesischen Meer oder zur mangelnden Rechtsstaatlichkeit in China. "Allerdings ist es sehr gut möglich, dass die chinesischen Regierungsvertreter solchen Vorhaltungen nicht mehr so geduldig zuhören wie noch im letzten Jahr", meint Heilmann. "Wir können hier von einem 'Wachwechsel' sprechen: London übernimmt in Europa die führende Rolle in der Beziehung zu China", so der MERICS-Direktor.
Eine unbegründete Sorge, meint dagegen Jörg Wuttke von der EU-Handelskammer. “Chinesen sind Pragmatiker. Sie wissen ganz genau, dass Deutschland die größte Volkswirtschaft in Europa ist. Wir haben rund 50 Prozent des europäischen Exports nach China, wir haben Mittelständler mit Technologien, die andere Länder in Europa nicht haben. Daran ändert auch eine Fahrt mit der königlichen Kutsche in London nichts."