‘Wir wollen nicht länger schweigen’ – Gleichberechtigung in Indien
Ein kleines Dorf im nordindischen Staat Utter Pradesh. Die nächste Stadt liegt etwa eine Autostunde entfernt. Rund 100 Frauen haben sich versammelt, um einer Verhandlung des ‚Nari Adalat’, eines Frauengerichts beizuwohnen. Die Menge wird still, als Pushpa, die schluchzende Mutter, über den Tod ihrer Tochter spricht. Sie wurde ermordet, weil die Mitgiftforderungen ihres Schwiegersohns nicht erfüllt werden konnten.
Leben der Frau zählt wenig
„Die Familie des Mannes wollte ein Motorrad und eine goldene Kette als Mitgift. Aber ich konnte mir das nicht leisten. Also haben sie meine Tochter verprügelt, bis sie gestorben ist.“ Dann, so fährt Pushpa fort, hätten sie ihre Tochter verbrannt und ihre Überreste einfach auf der Erde zurückgelassen. Der Schwiegersohn fordere nun die andere Tochter als Frau.
Kein Einzelschicksal in Indien. Laut Kriminalstatistik wird im Durchschnitt alle 77 Minuten ein Mitgiftmord gemeldet. Vor allem in den armen ländlichen Regionen erleiden Frauen das meiste Unrecht: Sie werden häufig noch als Kinder verheiratet und bekommen Kinder, bevor sie selber erwachsen sind. Zu Hause werden sie wie Gefangene behandelt und regelmäßig von ihren Männern geschlagen. Oft haben sie keinerlei Chance, eine Ausbildung zu erhalten. Die patriarchalischen Strukturen und das Kastensystem seien so in der Gesellschaft verankert, dass Ungleichheit und Diskriminierung von Frauen im Alltag akzeptiert würden, sagt Mutma. Sie organisiert die Frauengerichte in der Provinz Utter Pradesh.
Keine Vergewaltigung mehr ohne Strafe
Aber es gibt auch Anzeichen für Veränderung. Mutma erinnert sich an einen Fall von Gruppenvergewaltigung. Die Frau war deshalb misshandelt worden, weil die Männer es nicht ertrugen, dass die Frau in ihrem Dorf anfing auf ihren Rechten zu bestehen. „Ich ging danach zur Polizei”, erzählt Mutma, „aber die Polizisten waren bestochen und weigerten sich, die Männer zu verhaften. Sie beschuldigten das Mädchen, eine Prostituierte zu sein.“ Erst nachdem alle Frauen des Dorfes gemeinsam vor der Polizeistation demonstrierten, nahmen die Beamten die Jungen fest. „Und bestraften sie so hart, dass diese Jungen nicht einmal mehr daran denken werden, je wieder eine Frau zu vergewaltigen“, freut sich Mutma. Früher wäre eine solche Vergewaltigung nie geahndet worden. Heute steigt die Zahl der registrierten Fälle von Gewalt gegen Frauen stetig. Und auch die Zahl von Gerichtsurteilen zugunsten der Frau.
Anlaufstelle Frauengericht
Obwohl die Urteile vor dem Frauengericht juristisch nicht anerkannt sind, werden sie doch größtenteils von den Betroffenen akzeptiert. Dr. Safia Zamir, die Bezirkskoordinatorin der Frauengerichte, weiß auch warum: „Die Nari Adalats sind für die Leute gut zugänglich und außerdem kostenlos“. Und so erfolgreich, dass sie weit über die Landesgrenzen hinaus für Aufsehen sorgten. Im Jahr 2005 wurden 1.000 Frauen aus der ganzen Welt für den Friedensnobelpreis nominiert. Sechs von ihnen kamen von der Organisation Mahila Samakhya, die sich aktiv um die Ausbildung und Befähigung von Frauen kümmern – und auch die Frauengerichte ins Leben riefen. Die Bedeutung dieser Organisation hat bereits bei einigen Männern in Utter Pradesh zu einem Sinneswandel geführt. „Mein Mann hat sich so verändert. Er hat sogar angeboten für mich zu kochen, während ich bei den Mahila-Samakhya-Treffen bin…“, sagt eine Frau. Und ist glücklich, nicht länger schweigen zu müssen.
Autorinnen: Meenu Khare und Anja Küppers
Redaktion: Peter Koppen