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«Wir wollen friedliche Proteste»

20. Januar 2005

Gemeinsam mit Russlands Kommunisten organisiert die Partei „Jabloko“ die Demonstrationen gegen die Sozialreform. Im DW-Interview fordert der stellvertretende „Jabloko“-Vorsitzende Sergej Mitrochin einen Machtwechsel.

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Der Duma-Abgeordnete Sergej Mitrochin warnt vor einer Revolution

In Russland dauern die Proteste gegen die Streichung von Vergünstigungen, die künftig mit Bargeld ausgeglichen werden sollen, an. In mehreren Regionen Russlands versuchen die Behörden, die sozialen Proteste zu entschärfen, indem sie beispielsweise vergünstigte Fahrkarten für sozialschwache Bevölkerungsgruppen anbieten.

Aus der russischen Regierung verlautete inzwischen, dass hinter den Protesten geschickte Organisatoren stünden, die den Kundgebungen eine politische Färbung verleihen würden. Dazu äußert sich in einem Interview für die Deutsche Welle der Abgeordnete der Staatsduma und stellvertretende Vorsitzenden der demokratischen Partei „Jabloko“, Sergej Mitrochin.

DW-RADIO/Russisch: Wissen Sie, dass Sie vom russischen Finanzminister Aleksej Kudrin gesucht werden?

Sergej Mitrochin: Das höre ich zum ersten Mal.

Kudrin hat erklärt, es sei notwendig, die Organisatoren der landesweiten Massenproteste von Rentnern ausfindig zu machen. Was meinen Sie, warum?

Wahrscheinlich will man sie ins Gefängnis werfen. Wenn der Staat jemanden ins Gefängnis werfen will, dann macht er das. Aber in diesem Fall ist dies einfach ein Hilfeschrei eines Mannes, der weiß, dass er Verantwortung dafür trägt, was derzeit geschieht. Er will sie aber auf andere abwälzen. Am 29. Januar werden wir in Moskau eine Kundgebung gegen die verlogene und heuchlerische Politik der Partei „Einiges Russland“ veranstalten. Da Kudrin der Partei „Einiges Russland“ angehört, richtet sich dies gezielt gegen ihn, denn er hat die absurde Maßnahme mit der Bezeichnung „Monetarisierung der Vergünstigungen“ durchgeführt.

Ihre Partei organisiert gemeinsam mit den Kommunisten die Protestaktionen. Welches Ziel wird dabei verfolgt?

Hauptsache ist, den Menschen zu helfen. Wir fordern, erstens das Gesetz außer Kraft zu setzen und zweitens das Recht zu gewährleisten, zwischen den Formen der Vergünstigungen - Bargeld oder Naturalien – wählen zu können, was übrigens früher vorgeschlagen und von Kudrin abgelehnt wurde. Drittens geht es um die Erhöhung der Entschädigungen für diejenigen, die sich für Bargeld entscheiden. Bei den heutigen Staatseinnahmen besteht die Möglichkeit, sie zu finanzieren.

Ist es Ihrer Meinung nach möglich, dass die Proteste in Russland in eine Revolution wie die „Orange Revolution“ in der Ukraine übergehen?

Ich bin ein Gegner von Revolutionen. Für Russland ist das Wort „Revolution“ eine feuergefährliche Mischung - wie ein Molotow-Cocktail. Das Szenario fast aller Revolutionen in Russland verlief so, wie einst Puschkin schrieb: Eine russische Rebellion ist ziellos und schonungslos. Wir wollen friedliche Proteste organisieren und auf diesem Weg mit der Staatsmacht in einen Dialog treten und die Staatsmacht zwingen, im Interesse des Volkes zu handeln. Schließlich wollen wir im Rahmen der Gesetze einen Machtwechsel erreichen.

Präsident Putin meint, die Sozialreform sei richtig. Die Führungen der Regionen hätten ihre Hausaufgaben nicht gemacht.

Wenn ein Gesetz gut ist, dann kann man es nicht schlecht umsetzen. Wenn ein Gesetz schlecht umgesetzt wird, dann ist das Gesetz schlecht. Ein verantwortungsbewusster Präsident würde ein solches Gesetz niemals unterzeichnen. An der Spitze unseres Staates haben wir eine absolut verantwortungslose Führung. Niemand will Verantwortung übernehmen.

Wie wird sich Ihrer Meinung nach die Streichung der Vergünstigungen auf das Ansehen Putins in der russischen Bevölkerung auswirken?

Putins Ansehen ist heute nicht die wichtigste Frage. Wichtig ist, die Forderungen der Rentner schnell zu erfüllen. Putins Beliebtheit wird abnehmen. Das ist übrigens schlecht, weil die Beliebtheit Putins heute der einzige Faktor ist, der den Zerfall des Landes aufhält. Leider wurde ein solches Machtsystem errichtet, in dem alles von der Beliebtheit eines Mannes abhängt. Wenn diese Beliebtheit stark sinkt, dann könnte dies schwere Folgen haben und unter anderem zu einer Desintegration des Landes führen. Einige Gouverneure könnten an die Spitze regionaler Protestbewegungen gegen die dumme Politik des föderalen Zentrums treten. Das könnte zu einer neuen Souveränitäts-Parade führen, aber in viel größerem Ausmaß. Das ist eine sehr gefährliche Tendenz.

Das Interview führte Sergej Wilhelm,
DW-RADIO/Russisch, 19.1.2005