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“Wir können die Welt nicht mehr lesen”

Christian Reichel 9. April 2013

Auf den Inselatollen Südost-Indonesiens bestimmten lange Götter und Ahnen das Schicksal der Fischer und Händler auf dem Meer und an Land. Der Klimawandel hat alles verändert. Ein Dörfältester berichtet.

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Ein Fischer auf einem Boot (Foto: Christian Reichel, Institut für Ethnologie – Berlin)
Bild: Christian Reichel, Institut für Ethnologie – Berlin

Mein Name ist Bapak Hinayah. Ich bin Bajau Fischer und der Dorfälteste der Insel Rajuni Kecil. Die Menschen hier sind fast alle Fischer und Händler, und die Fischerei bildet unsere Lebensgrundlage. Wann wir ausfahren und wie viel wir fangen, hängt vom Monsun und dem Wechsel zwischen der Trocken- und Regenzeit ab. Die Indonesier aus der Stadt nennen uns orang laut - Menschen des Meeres. Ich bin sehr stolz ein Bajau zu sein. Einst lebte unser Volk nur auf Booten und besegelte alle Meere Südostasiens. Das ist heute vorbei. Ich vermisse die alte Zeit sehr!

Allah und der Meeresgott

Wir Bajau wissen viel über das Meer. Wir kennen alle Meerestierarten, wissen wo sie leben und wie sich sich verhalten, auch die Fische weit draußen im Ozean: Korallenfische, Shrimps, Hummer, Oktopusse, Seeschildkröten, Seegurken und Muscheln. Wir sind Muslime und glauben alle an den Allmächtigen, doch wissen wir auch, dass das Meer von Göttern, Meeresgeistern und Dämonen beseelt ist. An oberster Stelle dieser Ordnung steht der dewa laut, der Meeresgott, der mit seiner Frau und seinem Kind auf dem Meer lebt. Er verfügt über mehr Macht als alle anderen göttlichen Wesen und bestimmt, wie alle Aktivitäten ausgehen, die auf dem Meer stattfinden. Wenn der dewa laut mit den Menschen in Kontakt tritt, nimmt er die Gestalt eines vierarmigen Oktopus an. Wir Fischer haben großen Respekt vor dem dewa laut. Den alten Geschichten nach kann er jede beliebige Größe annehmen und alle Fischerboote mit Leichtigkeit zum Kentern bringen.

Bajau-Fischer Bapak Hinayah am Ufer. (Foto: Christian Reichel, Institut für Ethnologie – Berlin)
Bajau-Fischer Bapak Hinayah am Ufer. Die Bajau haben schon immer vom Meer gelebt. Aber wie lange noch?Bild: Christian Reichel, Institut für Ethnologie – Berlin

Um diese übernatürlichen mächtigen Wesen des Meeres nicht zu verärgern, halten wir uns an verschiedene Verhaltensvorschriften und Tabus. Denn unter der Vielfalt der Dinge existiert eine kosmische Ordnung, die alle Dinge miteinander verbindet. Wir glauben, dass durch einen übermäßigen oder einseitigen Fischfang die Gefahr besteht, diese Ordnung zu destabilisieren. Um dies zu verhindern, wenden wir das silelebbas an, ein Fischfangsystem. Es orientiert sich am Lebenszyklus der Meereslebewesen und schreibt für alle Meerestiere, die auf den Märkten weiterverkauft werden, genaue Fangperioden vor. Eine Missachtung dieser Regeln kann schwere Konsequenzen haben - von schlechtem Fischfang über Krankheiten bis hin zu Tsunamis oder Flutkatastrophen ist alles möglich.

Ein unberechenbarer Ozean

Früher war unser Atoll wie ein Garten von dem wir unsere Familien ernähren konnten.

Heute ist alles anders. Es sterben immer mehr Korallen. Wir müssen weit hinaus fahren, um überhaupt noch Fische fangen zu können. Die Fischerei für den täglichen Fischfang - mit kleineren Booten an den nahe gelegenen Riffen - ist praktisch nicht mehr möglich.

Auch die Jahreszeiten und das Wetter haben sich verändert. Vor zehn bis fünfzehn Jahren fing alles an unberechenbarer und extremer zu werden. Vorher war die Trockenzeit, von Juli bis September die beste Zeit zum Fischen. Die Monsunwinde waren ruhig, die Wellen niedrig und wir konnten auch in weiter entfernt gelegene Fischfang-Gebiete fahren oder Verwandte auf den verschiedenen weiter entfernten Inseln besuchen. Während der Regenzeit von Januar bis März wehten die Monsunwinde aus nord-westlicher Richtung. In dieser Zeit war der Wind viel stärker als in der restlichen Jahreszeit und die Wellen sehr hoch. In den Übergangszeiten von April bis Juni sowie von Oktober bis Dezember war das Wetter und die Wellen dagegen unberechenbar. Aber wir konnten uns darauf einstellen.

Heute ist das Wetter das ganze Jahr über unberechenbar und extrem. Es ist alles durcheinander geraten. Der Monsun setzt von Jahr zu Jahr später ein. Es regnet in der Trockenzeit und es kann sehr lange sehr trocken in der Regenzeit sein. Heftige Stürme kommen viel öfter als früher. Damit verbunden sind sehr hohe Wellen - teilweise so hoch, dass wir wochenlang nicht mit dem Boot hinaus fahren können.

Die Ahnen können uns nicht mehr helfen

Wir sind verzweifelt, auf das Wissen unserer Vorfahren können wir uns nicht mehr verlassen. Viele Menschen hier sind arm geworden. Um ihre Familien zu ernähren, ziehen einige von uns in die weit entfernte Stadt Makassar und versuchen dort als Tagelöhner Geld zu verdienen. Viele schaffen es nicht und leben auf der Straße. Diejenigen, die bleiben, müssen immer mehr mit Fischern von außerhalb konkurrieren. Diese kommen aus anderen Teilen Indonesiens oder weiter weg aus Hongkong, Singapur, Japan, Korea. Dort wo sie herkommen sind noch mehr Korallen abgestorben. Sie fischen ohne Rücksicht auf die natürlichen Ressourcen des Atolls. Wir beginnen, es ihnen gleich zu tun, wollen wir überhaupt noch etwas erfischen.

Ein Fischschwarm auf der Insel Rajuni Kecil. (Foto: Christian Reichel, Institut für Ethnologie – Berlin)
Einst war die Insel Rajuni Kecil voller Fische. Heute müssen die Fischer für volle Netze weit hinausfahren.Bild: Christian Reichel, Institut für Ethnologie – Berlin

All das ist ein Teufelskreis, der von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Um unser Überleben zu sichern, zerstören wir unsere Umwelt, und somit unsere zukünftige Lebensgrundlage. Es entsteht noch mehr Armut. Die kosmische Ordnung ist zerstört. Auch unser sandro, einer der Dorfältesten und Mittler zwischen der Welt der Menschen und der Welt der Götter, weiß nicht weiter. Wir versuchen Monat für Monat durch Opfergaben, die negativen Einflüsse von der Gemeinschaft abzuwenden, aber die Situation wird von Jahr zu Jahr schlimmer. Wir können die Welt nicht mehr lesen.

Aufgezeichnet von Christian Reichel

Christian Reichel ist Umweltanthropologe und arbeitet am Institut für Ethnologie der Freien Universität Berlin. Der oben aufgezeichnete Bericht beruht auf seinen Gesprächen mit mehreren Bewohnern der Insel Rajuni Kecil, mit denen er mehrere Monate gelebt hat. Die Insel ist Teil des Taka Bonerate Inselatolls in der Flores-See südlich von Sulawesi.