1. Zum Inhalt springen
  2. Zur Hauptnavigation springen
  3. Zu weiteren Angeboten der DW springen

Der Blick aus dem Fenster

Kate Müser
11. September 2017

Immer die gleiche Einstellung, immer die gleichen Kameras. Reiner Leist fotografierte von 1995 bis 2015 den Blick aus seinem Fenster mitten in Manhattan und dokumentierte so die Entwicklung vor und nach 9/11.

https://p.dw.com/p/1Jwzt
Reiner Leists Window Fofo vom 12. September 2001, Copyright: VG-Bild Kunst/Reiner Leist
Bild: VG-Bild Kunst/Reiner Leist

Der deutsche Fotograf Reiner Leist porträtiert seit 21 Jahren seine Heimat New York City. Mit Hilfe von zwei alten Plattenkameras hält er den Blick aus seinem Fenster in Midtown fest. "Windows" - so der Name seines Projekts - dokumentiert auch den Wandel des Lebens in Big Apple vor und nach dem 9. November 2001.

Vom 9. September bis 10. Oktober 2016 sind die Aufnahmen in der Walter Storms Galerie in München zu sehen. Am 9. September erscheint eine Publikation zu "Windows".

DW: Herr Leist, wo waren Sie am 11. September 2001?

Reiner Leist: Am 11. September 2001 war ich in Cambridge, Massachusetts. Ich habe von 2000 bis 2003 am Massachusetts Institute of Technology (MIT) unterrichtet. Ich erinnere mich noch sehr gut an die vielen Fernseher, die überall provisorisch aufgestellt wurden, in den Fluren oder sogar in den Fahrstühlen. So verfolgte ich den 11. September über die Medien, denn ich war ja nicht selber in der Stadt.

Sie fingen bereits 1995 an, Manhattan im"Window"-Projekt zu dokumentieren. Wie war Manhattan vor 9/11?

Meine Perspektive ist außergewöhnlich, da sie vom sogenannten Loft Law [Eds.: Wohnungsgesetz aus dem Jahr 1982] beeinflusst wurde. Wie man von SoHo und anderen Bezirken in Manhattan weiß, gab es damals große kommerziell genutzte Gebäude, die nicht mehr vermietet werden konnten, da so viele Menschen aus der Stadt zogen. Gewerbliche Nutzung funktionierte damals nicht mehr so gut. Deshalb zogen Künstler in die leerstehenden Räume ein.

Reiner Leists Window Fofo vom 12. September 2001, Copyright: VG-Bild Kunst/Reiner Leist
Bild: VG-Bild Kunst/Reiner Leist

Irgendwann begriff die Stadt, dass sie die Entwicklung nicht mehr aufhalten konnte. Sie verabschiedete ein neues Gesetz, das besagte, dass Vermieter von den Bewohnern nur dann Miete einnehmen durften, wenn sie die Räume zuvor renoviert hatten. Die Mieter durften außerden nur über kommerziell benutzte Räumen ziehen. Maschinen durften nur also nur darunter betrieben werden. Also waren viele von diesen Wohnungen - inklusive meiner - weit oben.

Meine Wohnung befindet sich in Midtown neben dem Madison Square Garden und zwischen Port Authority und Penn Station. Die Lage ermöglicht einen unglaublichen Blick auf Downtown.

Wie war die Stimmung damals in Manhattan? Was hatte Sie in die Stadt gelockt?

In den frühen 1990ern herrschte Aufbruchstimmung. Alles schien möglich. Insofern war die Situation damals nicht anders als in Berlin, da es große Veränderungen und noch bezahlbare Räume gab. Man hatte auch den Eindruck, dass in Manhattan die Bücher geschrieben werden, die man las, und die Filme gedreht werden, die man sah, und dass man mit den Menschen Gespräche führen konnte, für die man sich interessierte.

Zu der Zeit kam ich aus Südafrika, wo ich sechs oder sieben Jahre verbracht hatte und wo dramatische gesellschaftliche Veränderungen stattfanden. Aber im Vergleich zu New York ist Kapstadt ein kleines "Dorf". Für mich war New York eine Stadt, die Respekt verlangte. Als ich in den 1980er Jahren zu Besuch kam, um mir Uni-Programme anzuschauen, hatte ich das Gefühl, dass ich noch nicht bereit war für diese Stadt. Sie war zu rau und zu grob. Ich bin froh, dass ich mich damals für Südafrika entschieden habe.

Ihr "Window" Foto vom 12. September 2001 ist berühmt. Das heißt, Sie sind kurz nach den Anschlägen zurückgekehrt. Wie haben sie New York in den ersten Tagen danach erlebt?

Ehrlich gesagt: Ich war wie in Trance. Das sieht man dem Foto auch an. Es ist eigentlich ziemlich unscharf, weil ich nicht in der Lage war, die Kamera richtig zu fokussieren. Ich war zwar in der Stadt und hätte zum Anschlagsort runtergehen können, aber ich konnte mich für mehrere Tage physisch nicht dazu aufraffen. Es gab keine Möglichkeit, mit dem Verstand die Ereignisse zu verarbeiten, es gab nur Staunen.

War Ihr Fotoprojekt ein Weg für Sie, die Anschläge zu verarbeiten?

Gewissermaßen ja. In Krisenzeiten besinnt man sich auf die Routine. Plötzlich wird Normalität ein hoch geschätztes Gut. Das zu tun, was man immer getan hat, bestätigt einem, wer man ist. Und für mich war das die Fotografie.

Warum haben Sie sich dafür entschieden, eine alte Plattenkamera zu verwenden, und wie stießen Sie auf eine, die funktionierte?

Ich habe eine in einem Gebrauchtwarenladen in Afrika gefunden. Es gibt zwei Kameras: eine aus den 1890ern aus London und eine amerikanische aus den 1920er Jahren. Die habe ich in den USA von dem Sohn des ursprünglichen Besitzers gekauft. Für mich waren sie wichtig, weil ich die Zeitspanne in die Visualisierung einbinden wollte. Wenn man die Bilder betrachtet, sieht man einen Widerspruch. Sie sehen sehr alt aus. Dann merkt man: Oh! Da gibt es etwas, was letztes Jahr da gewesen sein kann. Das macht es also auch sehr zeitgenössisch. Ich habe nach diesem Widerspruch im Bild gesucht.

Reiner Leist, Copyright: VG-Bild Kunst/Reiner Leist
Reiner Leist sieht sein "Window" Projekt als StadtporträtBild: VG-Bild Kunst/Reiner Leist

Ich bin mit vier Generationen großgeworden. Als kleiner Junge habe ich noch meine vier Urgroßeltern kennengelernt. Dadurch habe ich ein besonderes Verhältnis zum Vergehen der Zeit entwickelt. Wie bei Walter Benjamins Engel suchte ich nach einer Form, die dieses wiedergeben würde. [Anm. der Red.: Walter Benjamin war ein deutscher Philosoph. Inspiriert von Paul Klees Gemälde "Angelus Novus" schrieb er: "Ein Sturm weht vom Paradiese her, der sich in seinen Flügeln verfangen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schließen kann. Dieser Sturm treibt ihn unaufhaltsam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, während der Trümmerhaufen vor ihm zum Himmel wächst. Das, was wir den Fortschritt nennen, ist dieser Sturm".]

Damals standen auch der Jahrhundert- und Jahrtausendwechsel bevor. Ich dachte, wenn ich etwas benutze, was vor 100 Jahren im Einsatz war, könnte ich die Spannung zwischen den Jahrhunderten andeuten.

Sie führen Ihr "Window"-Projekt fort. Wie würden Sie die Verwandlung New Yorks in den Jahren seit 2001 beschreiben - allein durch den Blick aus Ihrem Fenster?

Ich würde das Wort Paradox verwenden. Mein "Window"-Projekt kann auch als Porträt der Stadt gesehen werden. Wenn ich Sie über 20 Jahre porträtiere, gibt es etwas, was sich nicht verändert. Es ist und bleibt in New York. Auf der anderen Seite, werden sich die Menschen verändern, weil sie älter werden. Sie werden anders aussehen. Ich glaube, das gilt auch für Manhattan. Ich sehe viele neue Gebäude und veränderte Fassaden. Aber die grundlegenden Strukturen sind irgendwie identisch geblieben.

Sie leben seit über 20 Jahren in New York. Zeigen Sie die Perspektive eines Außenseiters im "Window" oder sind Sie inzwischen New Yorker?

Ich hoffe, es liegt irgendwo dazwischen. Nehmen Sie Ihre Sehkraft. Wenn Sie Ihren eigenen Erfahrungsschatz, den Sie mit Ihren Augen sammeln, betrachten, sehen Sie schlecht, wenn Sie zu nah sind. Sie sehen aber auch schlecht, wenn Sie zu weit weg sind. Ich pendele zwischen Deutschland und den USA und versuche gleichzeitig sowohl Distanz als auch Nähe zu bewahren.

Für den "World Trade Center Denkmalwettbewerb" haben Sie ein anderes Projekt eingereicht. Damals wollten Sie 2.792 Telefonkabinen um den Anschlagsort errichten lassen. Ihr Vorschlag wurde zwar nicht ausgewählt, aber was wollten Sie mit den Telefonkabinen ausdrücken?

Sowie ich "Window" als Porträtprojekt beschrieben habe, war meine Hoffnung für den World Trade Center Denkmalwettbewerb, Porträts der Opfer zu schaffen. Oral History [Anm. der Red.: eine Methode der Geschichtswissenschaft, die auf die Erzählungen von Zeitzeugen basiert.] ist eine Möglichkeit, ein Porträt zu schaffen. Meine Idee war, dass man an den Telefonkabinen - von denen es immer weniger gibt - vorbeigehen und den Hörer aufheben könnte. Dort sollten Freunde und Verwandte die Geschichte der Opfer erzählen. Auf diese Weise sollte der Verstorbenen gedacht werden und man hätte die Gelegenheit, einen Zugang zur Geschichte zu finden.

Der deutsche Fotograf Reiner Leist (Jahrgang 1964) lebt seit 1994 in Manhattan. Er studierte Fotografie und bildende Kunst in München, Kapstadt und New York City. Seine Werke dauern oft Jahre und betrachten das Verhältnis zwischen Mensch und Gesellschaft."Window" begann er 1995, in dem er fast täglich ein Foto aus seinem Fenster mit einer Plattenkamera macht. Die Fotos wurden bisher zweimal als Bücher veröffentlicht und ein drittes Buch kommt am 9. September heraus. Vom 9. September bis 22. Oktober 2016 wird "Reiner Leist, Window" in der Walter Storms Galerie in München zu sehen sein.

Kate Müser führte das Gespräch.