Wieviel Reichtum ist genug?
15. Oktober 2022Die Preise für Energie und Konsumgüter steigen in Europa. Viele Menschen leiden unter hohen Preisen. Doch den richtig Reichen macht das nichts aus. Sie konsumieren weiter. Gut für sie, würden manche sagen: Man kann nie reich genug sein! Schlecht für den Rest, sagt eine belgisch-niederländische Philosophin, die das Konzept des Limitarismus entwickelt hat.
Beim Limitarismus geht es darum, dass niemand übermäßig reich werden sollte. Der Grund hinter der Idee: Einzelne Superreiche würden der Gemeinschaft zu sehr schaden. Sie belasten mit ihrem Lebensstil das Klima unverhältnismäßig mehr als andere Menschen und sie können sich mit ihrem Geld zu viel politischen Einfluss erkaufen. Deswegen müsse es eine Grenze geben.
Diese Obergrenze ist aber nicht als Bestrafung gedacht. Die Idee ist vielmehr, dass durch die Begrenzung des Reichtums - und somit die bessere Verteilung des Geldes - die Gesellschaft im Allgemeinen gefördert wird. Außerdem trägt Geld ab einem gewissen Punkt nicht mehr zu einem Mehr an Wohlbefinden bei, so die Begründerin der Idee, Ingrid Robeyns.
Der Limitarismus ist kein Sozialismus oder Kommunismus. Er lehnt nicht die Anhäufung von Reichtum, den Besitz von Privateigentum oder ein gewisses Maß an sozialer Ungleichheit ab. Er besagt lediglich, dass sehr viel zu haben, manchmal zu viel ist. Wo genau, dieses "zu viel" angesiedelt ist - bei zehn Millionen Dollar oder bei zwei - dazu hat sich Robeyns noch nicht geäußert.
Robeyns ist eine Theoretikerin aus Belgien, die an der Universität Utrecht in den Niederlanden arbeitet. Sie forscht und lehrt im Fachbereich Philosophie mit den Schwerpunkten Ethik, politische Philosophie und soziale Gerechtigkeit. Sie stellte die Idee des Limitarismus erstmals 2012 auf einer Konferenz vor, aber es dauerte einige Jahre, bis ihre erste wissenschaftliche Arbeit zu diesem Thema erschien. Seitdem spricht sie unermüdlich über das Thema, hat zahlreiche Artikel veröffentlicht und arbeitet an einem Buch.
Europäer offener für Limitarismus
Ihre Vorträge und Texte haben weltweit unterschiedliche Reaktionen hervorgerufen: "In Europa, so meine Erfahrung, teilt die Öffentlichkeit viele der Argumente für den Limitarismus. Aber in den USA ist diese Idee sehr weit von der Mitte der Gesellschaft entfernt", so Robeyns gegenüber der DW. "Teil der traditionellen amerikanischen Kultur ist die Idee des 'amerikanischen Traums' - der Glaube, dass jeder die Chance hat, sehr reich zu werden, wenn man nur engagiert genug ist."
Robeyns Theorie hört aber nicht mit dem Blick auf den Kontostand auf. Die Moral sei der Kern des Limitarismus, sagt sie. So könne eine zu große Ungleichheit die Demokratie untergraben, weil die Reichen ihr Geld nutzen, um Politiker zu beeinflussen, Lobbyisten zu engagieren und ihre Vorstellungen in Gesetze zu gießen. Wenn das nicht funktioniert, können sie die öffentliche Meinung beeinflussen, indem sie Medien vollständig besitzen oder Denkfabriken finanzieren.
Großer Reichtum kann Klimawandel anheizen
"Wenn man bereits 10 Millionen Dollar hat, bringt es nicht viel, wenn man noch 100.000 Euro oder Dollar dazu bekommt. Wenn man aber überhaupt keinen Reichtum hat, dann ist jeder Zuwachs bedeutend", so Robeyns. Und das wiederum bedeute weniger Hunger, weniger unbeheizte Häuser und weniger Kinder in Armut.
Und dann ist da noch die Umweltfrage: "Die Superreichen verursachen überproportional viel mehr Kohlendioxid, weil ihr materieller Lebensstil viel üppiger ist und ihre Investitionen ökologisch schädlich sind", so Robeyns. "Man könnte also sagen, dass es fair wäre, ihr überschüssiges Geld für die Bewältigung der Klimakrise zu verwenden, anstatt ihnen die Möglichkeit zu geben, Luxusbunker oder Villen auf Berggipfeln zu bauen, um sich dort zu verstecken, falls der Klimawandel außer Kontrolle gerät und Unruhen ausbrechen."
Das Geld könnte helfen, Gesellschaften besser an die Klimaveränderungen anzupassen. Regierungen könnten in Systeme zum Schutz der Bürger vor Extremwetter investieren. Gleichzeitig könnten sie Kapazitäten für erneuerbare Energien oder bessere Technologien aufbauen.
Kritiker: Limitarismus würde Innovationen ausbremsen
Einige Kritiker sind der Meinung, dass der ökonomische Limitarismus nicht weit genug geht. Auch für Unternehmen sollten die Leitlinien des Limitarismus gelten, sagen sie. Andere Philosophen und Wirtschaftswissenschaftler lehnen die Idee einer Begrenzung des Reichtums jedoch entschieden ab. Es sei die Chance, reich zu werden, die Unternehmer dazu antreibt, Risiken einzugehen, Dinge zu erfinden und Veränderungen zu bewirken.
Während diese theoretischen Diskussionen stattfinden, werden die Reichen immer reicher. Auf der 2022 vom Forbes-Magazin veröffentlichten Liste der Milliardäre stehen 2668 Personen. Zusammen besitzen sie 12,7 Billionen Dollar. Das ist etwas weniger als im Vorjahr, da die vielen globalen Krisen ihren Tribut gefordert haben. Dennoch wurden "mehr als 1000 Milliardäre gefunden, die reicher sind als noch vor einem Jahr", so das Forbes-Magazin.
Ab wann ist es genug?
Robeyns sieht die Probleme bei der Umsetzung ihrer Ideen in der realen Welt. Erstens ist es nahezu unmöglich, eine allgemeingültige Definition dafür zu finden, wie reich zu reich ist. Zweitens: Selbst wenn es einen bestimmten Betrag gäbe, wie würde man das überschüssige Geld tatsächlich eintreiben? Sie findet Trost in der Tatsache, dass Philosophen dazu da sind, Fragen zu stellen, und nicht, um Diamantenketten oder Privatjets zu konfiszieren.
"Ideen können die Geschichte verändern. Manche tun es, manche nicht", so Robeyns. Ihre Ideen mögen in manchen Ecken unpopulär sein, aber zumindest regen sie die Menschen zum Nachdenken über Ungleichheiten an, so die Wissenschaftlerin. "Meine Rolle als Philosophin und Wissenschaftlerin ist es, diese Argumente vorzubringen, aber es liegt an den Bürgern und führenden Persönlichkeiten im wirtschaftlichen, politischen und religiösen Bereich, die Schritte zur Verwirklichung einer solchen Welt zu unternehmen."
Dieser Artikel wurde aus dem Englischen adaptiert.