"Mitwissen der Athleten nicht bewiesen"
29. November 2017DW: Herr Wieschemann, das IOC hat erklärt, warum Alexander Legkow, Olympiasieger im 50-Kilometer-Langlauf, disqualifiziert wurde. Welchen Eindruck haben Sie von der Urteilsbegründung?
Christof Wieschemann: Ich hatte den Eindruck eines hohen Maßes an Voreingenommenheit. Ich habe mich unmittelbar nach dem Bekanntwerden der Entscheidung selber dazu geäußert. Ich hatte den Eindruck, dass das Urteil schon festgestanden hat, als ich den Saal betreten habe. Und mein Eindruck bestätigt sich nachdem ich das Urteil lese.
Warum wurde Legkow lebenslang disqualifiziert? Manche fragen sich, ob das nicht überzogen ist?
Angesichts der dünnen Beweislage, die gegen seine persönliche Beteiligung spricht, halte ich das Urteil auch für maßlos überzogen. Wir wissen, dass es zu lebenslangen Sperrungen überhaupt nur bei einem direkten Vorsatz kommen kann. Ich habe hier aber nicht einmal den Beweis einer Tatbeteiligung, geschweige denn eines Tatvorsatzes. Das erscheint mir völlig unangemessen.
Sie selbst haben keine Zweifel, dass in Russland Sportler systematisch gedopt wurden. Sie sind überzeugt, dass die Behauptungen des Chefermittlers Richard McLaren, der im Auftrag der Welt-Anti-Doping-Agentur (WADA) einen Untersuchungsbericht vorgelegt hat, stimmen.
Das ist richtig. Das ist etwas, was die Russen auch selber nicht bestreiten. Dafür sind mittlerweile auch zu viele Trainer, die in das System involviert waren, und auch zu viele Athleten gesperrt worden. Der russischen Öffentlichkeit geht es in erster Linie darum, dass es keinen Nachweis für eine staatliche Verstrickung gibt.
Aber in der Urteilsbegründung des IOC heißt es eindeutig, Legkow sei Teil der großen Maschinerie gewesen. Er habe von der groß angelegten Vertuschungsaffäre wissen müssen und habe vom Austausch von Fläschchen mit Urinproben profitiert.
In der Urteilsbegründung reichte es dem IOC, zu sagen: 'Es ist für uns unglaubwürdig, dass ein Athlet von diesem System geschützt sein konnte, ohne es zu wissen.' Das ist aber eine Unterstellung. McLaren selber hat allerdings auch gesagt, es reiche nicht, darzustellen, dass es ein solches System gegeben habe, sondern es sei erforderlich, nachzuweisen, dass der Athlet einen Beitrag dazu geliefert habe oder zumindest davon wusste. Diese Lücke zu schließen, auf der einen Seite zwischen dem Nachweis, dass die Flasche hier möglicherweise als Teil des Schutzsystems [durch die russische Anti-Doping-Agentur RUSADA und andere russische Behörden, Anmerkung der Redaktion] ausgetauscht wurde und dass der Athlet entweder etwas davon wusste, einen Benefit haben sollte, oder reinen persönlichen Beitrag geleistet hat, erspart sich das IOC. Mit dieser Frage hat sich das IOC tatsächlich nicht auseinandergesetzt. Es reichte zu sagen: 'Es gibt das System und wir unterstellen, dass alle Athleten, die von diesem System betroffen waren, auch einen Vorteil haben.'
Grigori Rodschenkow, der frühere Chef des Moskauer Labors, ist ein sehr wichtiger Zeuge. Er hat ausgesagt, er habe Legkows Probe am 23. Februar nach dessen Olympiasieg ausgetauscht. In Russland hält man Rodschenkow nicht ohne Grund für einen Kriminellen, doch das IOC sagt: 'Egal, was ihn antreibt, seine Zeugenaussagen sind richtig und wichtig.' Wie sehen Sie die Situation?
Ich hatte bisher keinen Anlass, mich mit der Glaubwürdigkeit von Rodschenkow als Person auseinanderzusetzen, weil er einzelne Athleten bisher nicht belastet hat. Rodschenkow hat in der Tat das erste Mal Angaben zu Legkow gemacht. Wenn es darum geht, dass er sagt: 'Ich habe persönlich seine Probe ausgetauscht', dann kann ich zunächst einmal sagen, das mir das eigentlich völlig egal ist, weil das allenfalls bestätigen würde, dass Alexander Legkow geschützt war. Das bestätigt aber noch nicht, dass er von seinem eigenen Schutz überhaupt wusste und einen Beitrag dazu geliefert hat.
Sie argumentierten im Fall Legkow, das IOC solle für die Sicherheit der Proben haften. Da stimmt ihnen das sogar das IOC zu. Es sagt aber auch, man konnte nichts gegen kriminellen Betrug seitens der russischen Behörden tun und könne Sicherheit nur im Normalfall gewährleisten. Laufen Sie mit ihrer Argumentation nicht Gefahr, Moskau mehr zu nützen als es ihnen vielleicht recht ist?
Das Problem umschifft das IOC in seiner Urteilsbegründung sehr sorgfältig. Dazu gibt es auch einen Grund, der mittlerweile bekannt ist: Richard McLaren hat in seinem Report eine Email vom 22.12.2012 veröffentlicht - also von einem Zeitpunkt, mehr als ein Jahr vor Beginn der Olympischen Spiele - in der die russische Diskuswerferin Daria Pitschschalnikowa sowohl das IOC als auch die WADA und den Internationalen Leichtathletikverband IAAF mit detaillierten Angaben über das versorgt hat, was in Moskau passiert. Nämlich ein hochkorruptes System, in dessen Zentrum Rodschenkow auf der einen Seite Dopingmittel an die Athleten weitergibt und auf der anderen Seite positive Proben verbirgt. Das IOC wusste zu diesem Zeitpunkt also, dass derjenige, den sie selber zum Direktor des Laboratoriums in Moskau gemacht haben, ein korruptes Doping-System unterhalten hat. Es ist für mich eines der großen Mysterien dieses Falles, dass darüber kaum jemand spricht. Wenn das IOC damals die Verantwortung ernst genommen hätte, dann wäre Rodtschenkow 2014 definitiv nicht in Sotschi gewesen.
19 russische Sportler aus fünf Sportarten sind lebenslang gesperrt worden. Rechnen Sie nach diesen Urteilen mit dem Ausschluss Russlands von den kommenden Winterspielen in Südkorea?
Das hat, glaube ich, keine Indiz-Wirkung. Ich hatte ursprünglich den Eindruck, dass es in der Öffentlichkeit insgesamt einen erheblichen Sanktionsdruck gegen Russland gibt. Meine Aufgabe ist nicht, zu beurteilen, ob das im Hinblick auf den Verband berechtig ist oder nicht. Aber ich hatte schon sehr deutlich den Eindruck, auch während meines Aufenthaltes beim IOC am 30. Oktober, dass man diesem Sanktionsdruck zumindest gegenüber den Athleten nachkommen will. Wir dürfen aber nicht vergessen, dass es zwei unterschiedliche Kommissionen sind, mit zwei unterschiedlichen Persönlichkeiten an der Spitze. Das ist einmal Dennis Oswald und auf der anderen Seite Samuel Schmid. Ich habe wirklich überhaupt keine Möglichkeit, eine Bewertung abzugeben, wie Schmid die ihm gestellte Aufgabe erledigen wird.
Christof Wieschemann, Jahrgang 1962, ist Rechtsanwalt mit Schwerpunkt im Wirtschafts- und Markenrecht. Daneben arbeitet er auch im internationalen Sportrecht seit 20 Jahren für Mandanten in allen Ländern Europas, aber auch den USA, Mexiko, Russland und der Türkei.
Das Gespräch führte Mikhail Bushuev