Wien - Drehscheibe der Dschihadisten?
3. November 2020Er trug bei dem Anschlag in der Wiener Altstadt eine Sprengstoffgürtel-Attrappe und war bis an die Zähne bewaffnet, mit Sturmgewehr, Pistole und Machete. Und er war offenbar wild entschlossen, Menschen zu töten. Der 20-jährige Kujtim F. war Österreichs Sicherheitsbehörden bestens bekannt. Im vergangenen Jahr wollte sich der Österreicher mit albanisch-mazedonischen Wurzeln dem IS in Syrien anschließen. Er war deshalb zu 22 Monaten Haft verurteilt worden. Am 5.Dezember 2019 war der Vorbestrafte dann auf Bewährung entlassen worden. Denn er galt als junger Erwachsener und für die gelten in Österreich die Privilegien des Jugendgerichtsgesetzes (JGG).
Kujtim F. war unter anderem vom Verein DERAD betreut worden, der auf die Deradikalisierung muslimischer Jugendlicher spezialisiert ist und mit dem Wiener Justizministerium zusammen arbeitet. "Ich hätte das niemals für möglich gehalten, dass er zu einem Attentäter wird", sagt aber sein ehemaliger Strafverteidiger Nikolaus Rast der Austria Presse Agentur (APA). Er stamme aus einer "normalen Familie" und sei wohl an die falschen Freunde geraten, so der Jurist. "Wäre er nicht in eine Moschee, sondern zum Boxen gegangen, wäre er Boxer geworden", glaubt Rast. Vor zwei Jahren sei die Mutter des Attentäters völlig aufgelöst in seine Kanzlei gekommen, weil ihr Sohn verschwunden sei. Er habe sich im Internet radikalisiert. Polizeikugeln setzten dem Leben des jungen Mannes am Montagabend nahe der Rupertskirche in der Wiener Innenstadt ein Ende.
Dass er einen Anschlag begehen würde, dafür gab es Indizien, das musste Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖVP) am Tag danach einräumen. Denn der 20-Jährige hatte auf seinem Instagram-Account ein Foto gepostet, das ihn mit zwei der Waffen zeigte, die er später bei dem Anschlag verwendet haben dürfte. Nehammer spielte den Ball ins Feld des grünen Koalitionspartners, namentlich der Justizministerin Alma Zadic. Der 20-jährige Attentäter habe es geschafft, das "Deradikalisierungsprogramm der Justiz zu täuschen". So habe er bei einem Termin mit der DERAD im Oktober die Anschläge in Frankreich verurteilt, es gebe aber "eine Fülle von Hinweisen auf seine Radikalisierung", sagte der Generaldirektor für öffentliche Sicherheit, Franz Ruf, auf einer Pressekonferenz am Dienstag Nachmittag. "Es braucht eine Evaluierung des Systems und eine Optimierung der Justiz", forderte Innenminister Nehammer. Warum die Dienste seines Ministeriums den 20-Jährigen trotz seiner radikalen Vergangenheit nicht besser auf dem Radar hatten, sagte der ÖVP-Politiker nicht. Künftig sollen auch die Staatsschützer in der Frage von Haftentlassungen zu Rate gezogen werden.
Muslimische Organisationen verurteilen Anschlag
Die Islamische Glaubensgemeinschaft in Österreich (IGGÖ) zeigte sich entsetzt über den Anschlag, den ihr Vorsitzender Ümit Vural als einen "Angriff auf unser Wien" bezeichnete. Die IGGÖ bot den Sicherheitsbehörden umfassende Kooperation an. Man stehe auch im Kontakt zu den anderen Glaubensgemeinschaften. Vural betonte, dass die "liberale Rechtsordnung" stärker sei "als Gewalt und Terror". Der türkische Moscheenverein ATIB verurteilte den Anschlag ebenfalls. "Terror hat keine Religion und keine Heimat", sagte ATIB-Vorsitzender Fatih Yilmaz. Die einzige Antwort seien "Zusammenhalt und Solidarität".
Der ATIB-Vorsitzende lobte ausdrücklich "die differenzierte und bedachte Darstellung des Bundeskanzlers Kurz, nicht alle Muslime über einen Kamm zu scheren". Österreichs Regierungschef hatte betont, Feind seien nicht alle Angehörigen einer Religion, sondern der islamische Extremismus. Islamisten wollten die Gesellschaft spalten, aber man werde "diesem Hass keinen Raum geben", sagte der Bundeskanzler am Tag nach dem Anschlag in Wien. Auch die Aleviten und die Muslimische Jugend verurteilten die Attacke. Es handle sich hierbei um einen feigen Angriff "auf unschuldige Menschen, auf das Wiener Lebensgefühl, auf Österreich, unsere Gesellschaft", so muslimische Jugendvertreter. Zum Freitagsgebet wollen Österreichs Muslime der Opfer des Wiener Anschlags gedenken.
Gefängnisse als "Brutstätte der Radikalisierung"
Imam Ramazan Demir, der früher selbst Gefängnisseelsorger war, legte aber auch den Finger in eine Wunde. "Gefängnisse sind Brutstätte der Radikalisierung", betonte der muslimische Geistliche gegenüber der Presseagentur APA. Von erheblichen Sicherheitslücken in Österreichs Gefängnissen berichtet das Nachrichtenmagazin "Profil" in seiner jüngsten Ausgabe. So nimmt laut Wiener Justizministerium die Anzahl eingeschmuggelter Handys zu. Im vergangenen Jahr seien mehr als 1000 illegale Mobiltelefone in den Haftanstalten beschlagnahmt worden - 720 mehr als im Vorjahr.
In Graz waren in der Zelle eines Hamas-Anhängers ein Handy nebst vier Patronhülsen gefunden worden. Er soll aus der Zelle zu einem Attentat angestiftet haben, was sein Anwalt bestreitet. Das Nachrichtenmagazin berichtet auch von dem verurteilten IS-Anhänger Lorenz K., der von der Justizanstalt Stein aus mit IS-Unterstützerinnen in Syrien gechattet hatte. An eine Frau habe er ein Bild verschickt, das ihn vor einer schwarzen IS-Fahne in seiner Zelle zeigt. "Diese Fahne war immer in der Zelle", wird er im Vernehmungsprotokoll des Bundesamtes für Verfassungsschutz und Terrorismusbekämpfung (BVT) zitiert, "alle haben das gewusst und keiner hat etwas getan". Über sein Instagram-Profil habe der Mann dem Bericht zufolge auch IS-Inhalte geteilt, darunter auch einen Treueschwur auf den neuen Anführer der Terrormiliz. K.s Anwalt bezeichnete seinen Mandanten den Recherchen zufolge als "notorisch naiv", der Insasse bestreitet alle gegen ihn erhobenen Vorwürfe.
"Dass sich da was tut", sei in den einschlägigen Foren in den letzten Tagen sehr deutlich zu spüren gewesen, sagte der Leiter der Kontaktstelle für Extremismusprävention in der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Nadim Mazarweh. Man müsse die Rhetorik dieser Menschen deuten lernen, forderte er, um derartige Terroranschläge künftig zu verhindern.
Österreich - Drehscheibe für Dschihadisten
Österreich ist schon lange eine Drehscheibe für Dschihadisten vom Balkan, aber auch aus dem Kaukasus. "Der Großteil der Dschihadisten, die aus Österreich ausgereist sind, um für Terrororganisationen im Ausland zu kämpfen, sind Tschetschenen", erklärte Österreichs Innenminister Karl Nehammer (ÖPV) nach dem jüngsten Pariser Attentat. Die Regierung in Wien kündigte nach dem Anschlag von Paris eine "Taskforce" an, die sich "mit der Gefahr der Bildung von Parallelgesellschaften" befassen sollte. Der Wiener Verein DERAD soll radikalisierte Muslime in den Gefängnissen vom Dschihadismus abbringen und verhindern, dass muslimische Jugendliche in die Szene des politischen Islam abdriften.
Dieses System steht jetzt auf dem Prüfstand, künftig sollen bei vorzeitigen Haftentlassungen auch die Erkenntnisse der Staatsschützer einbezogen werden, so der Wiener Innenminister. Im Frühjahr waren in Graz führende Dschihadisten zu Haftstrafen verurteilt worden. Über einen Grazer Glaubensverein hatten sie Kämpfer in den Nahen Osten geschleust. Der IS rekrutiert seit Jahren auch Gotteskrieger auf dem Balkan, die Hotspots dort sind der Sandschak im Dreiländereck Bosnien, Serbien und Kosovo sowie die angrenzenden Länder. Propaganda-Videos des IS sprechen gezielt junge Männer in den Balkanstaaten an. Ihre Kampfnamen deuten auf ihre Herkunft hin: Al-Bosni, Al-Kosovi, Al-Albani nennen sie sich. Die Vision der Radikalen ist, den Balkan in ein zu schaffendes Kalifat zu integrieren. Immer wieder führen ihre Spuren auch nach Wien.
Social-Media-Helden
Zu Social-Media-Helden wurden nach dem Wiener Anschlag indes zwei junge türkisch-stämmige Kampfsportler. Sie hatten am Montagabend zwei Verletzte aus der Schusslinie gezogen, darunter auch einen angeschossenen Polizisten. "Wir türkisch-stämmige Muslime verabscheuen jede Art von Terror", sagt einer der Männer in einem Instagram-Video. Sie hätten "noch einen letzten Kaffee vor der Ausgangssperre trinken" wollen, so der Helfer vor einem Döner-Imbiss.
Bei den Wiener Psychosozialen Diensten (PSD) liefen nach dem Anschlag "die Telefone heiß", sagte PSD-Chefarzt Georg Psota. Unter den Anrufern seien nicht nur Menschen, die Zeugen des Terroranschlages waren, sondern auch Menschen, denen "es schlicht und einfach Angst macht", zumal im Jahr der Corona-Pandemie. Zum Social-Media-Hit in Österreich wurde das Video eines Mannes, der dem Attentäter auf Wiener Art aus einem Fenster in der Innenstadt nachgerufen hat: "Schleich di, du Oaschloch".